Das Internet als Chance, die Konturen einer Weltzivilgesellschaft zu entwickeln
Das Internet als Chance, die Konturen einer Weltzivilgesellschaft zu entwickeln
Julian Nida-Rümelin, Ludwig-Maximilians-Universität, München
1. Menschenrechte und Demokratie
In den Feuilletons dominieren seit Jahrzehnten die Botschaften der Postmoderne: Verabschiedung des Subjektes, Ende der großen Erzählungen von Vernunft und Verantwortung, Ende des Fortschritts. Kaum jemandem scheint aufzufallen, dass jede dieser Botschaften durch den mächtigsten Diskurs der Gegenwart widerlegt wird.
Am 18.12.1948 verabschiedet die Vollversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die in ihrer Klarheit und Prägnanz bis heute unübertroffen ist. Damit wird eine zweite Säule der Vereinten Nationen etabliert, neben der ursprünglich zweifellos dominierenden – der kollektiven Sicherheit. Und es war nicht „der Westen“, der ein kleines Zeitfenster der Nachkriegsgeschichte nutzte und in einem Oktroi die westliche Tradition der Menschenrechte der weiteren Entwicklung der Weltgemeinschaft auferlegte. Das, was von links als Ausdruck einer neokolonialen Attitüde interpretiert wird und von rechts als Beleg für die Unverträglichkeit der Demokratie mit außereuropäischen Kulturen behauptet wird, hat gar nicht stattgefunden. Es war nicht der Westen, der die Menschenrechte zur zweiten normativen Quelle einer angestrebten globalen Friedensordnung etablierte, vielmehr versuchten zwei starke politische Kräfte des Westens der damaligen Zeit gerade dieses zu verhindern: das Pentagon und Großbritannien. Es gab damals vier treibende Kräfte für die Etablierung der Menschenrechte als zweite Säule neben der kollektiven Sicherheit: die jüdischen Organisationen, zumal diejenigen in den USA, die Witwe des am 12.04.1945 verstorbenen, aber nach wie vor hochgeschätzten vormaligen US-amerikanischen Präsidenten Eleanor Roosevelt, die südamerikanischen Staaten, die sich in einer Konferenz ein halbes Jahr vor der Verabschiedung auf die Grundlinien schon in einem Papier verständigt hatten, und die – unterdessen – größte Demokratie der Welt, nämlich Indien. Und die beste Rede hielt meines Erachtens der Delegationsleiter Indiens, der den größeren philosophischen und spirituellen Zusammenhang, in dem der Menschenrechtsdiskurs steht und der diesen an ganz unterschiedliche kulturelle und spirituelle Traditionen anschlussfähig macht, wenigstens erahnen ließ. Wenn wir uns von den vordergründigen politischen Instrumentalisierungen lösen, dann wird der Blick frei auf ein Phänomen, das uns in Erstaunen versetzen sollte und Bewunderung verdient: Mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte setzt ein faszinierender, langjähriger, oft umwegiger Prozess ein, der alle Regionen der Welt und alle Staaten der Welt umfasst, der rund 20 Jahre später zu den beiden Menschenrechtspakten Mitte der 60er Jahre führt, Ende der 70er Jahre durch den bis dato erfolgten Prozess der Ratifizierungen völkerrechtliche Verbindlichkeit erhält, der einen wesentlichen Anteil am KSZE-Prozess hatte, der schließlich zum Sturz realsozialistischer Regime in Mittel- und Osteuropa führte, die Regierungsbewegungen gegen Militärdiktaturen in Südamerika und Afrika inspirierte und der auch in der Gegenwart politische Ordnungen stürzt, die unerschütterlich schienen, die aber dem Impetus universeller menschlicher Rechte nicht entsprechen. Reihenweise kollabieren gegenwärtig diktatorische Regime in Nordafrika, weitere sind gefährdet und die Erschütterungen, ausgelöst durch einen machtvollen Menschenrechtsdiskurs, reichen bis in die Zentren einer sich gegenwärtig formierenden zweiten Supermacht China.
Die Entwicklung des Menschenrechtsdiskurses zeigt, dass es möglich ist, sich über kulturelle, weltanschauliche und politische Differenzen hinweg auf Prinzipien der Humanität zu verständigen. In diesem Sinne ist Humanismus zur globalen Leitkultur geworden. Dieser Humanismus ist kompatibel mit verschiedenen kulturellen Prägungen und religiösen Traditionen. Dieser Humanismus ist unverträglich mit Willkürherrschaft, mit Diktatur, Ausgrenzung, Verfolgung von Minderheiten, Diskriminierung. Die Staats- und Gesellschaftsform, die diesem Humanismus entspricht, ist die Demokratie. Die Demokratie ist diejenige Staatsform, die Menschenrechte zu Grundrechten macht, zu Rechten aller ihrer Bürgerinnen und Bürger und diese institutionell (Rechts- und Sozialstaatlichkeit) sichert. Da die Demokratie die äußere Form einer politischen Praxis ist, die Menschenrechte achtet, ist sie zugleich die einzige Staatsform, die ohne eine aktive Zivilgesellschaft nicht lebensfähig ist, ja die ein wechselseitiges Stützungsverhältnis eingehen muss zwischen Staat und Zivilgesellschaft. Für andere Staats- und Regierungsformen ist Bürgerengagement eine Bedrohung. Dies ist die eigentliche Stärke der Demokratie, die in diesen Monaten wieder deutlich geworden ist.
Das Grundprinzip aller Menschlichkeit ist unveränderlich: Niemand darf in seiner Selbstachtung existenziell beschädigt werden. Dies ist der Kern menschlicher Würde, wie er in der Ethik Immanuel Kants, in der Gegenwart derjenigen von Avishai Margalit einen systematischen Ausdruck gefunden hat. Die Bedingungen einer humanen Gesellschaft ändern sich jedoch mit den Zeiten und Kulturen. Was jeweils eine Praxis der Ausgrenzung und der Diskriminierung ist, liegt nicht ein für alle Mal fest, sondern hängt von den spezifischen kulturellen und ökonomischen Bedingungen ab. Menschenrechte gelten nicht nur in modernen, sondern auch in traditionalen Kulturen. Aber staatlich garantierte allgemeine Bildung ist ein Menschenrecht erst in der Moderne, weil die Bedingungen dafür in traditionalen Gesellschaften nicht vorliegen. Teilhabe an Kommunikation, freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit sind Menschenrechte, die Medien der Kommunikation und Information ändern sich allerdings mit den Zeiten.
Die merkwürdig schief formulierte Fragestellung, die gegenwärtig intensiv diskutiert wird, ob das Internet ein Menschenrecht sei, muss daher präzisiert werden: Unter welchen Bedingungen wird der Zugang zum Internet zu einem individuellen Menschenrecht? Da die Kodifizierungen der Menschenrechte Staaten vornehmen, würde mit der Etablierung eines Menschenrechts auf Internetzugang eine staatliche Pflicht etabliert, diesen Zugang zu sichern. Nach meiner Einschätzung ist die Entwicklung, wenn nicht global, sondern so doch für weite Regionen der Weltgesellschaft, so weit gediehen, dass der Ausschluss von der Internetkommunikation, z.B. aufgrund eines Wohnorts, von dem aus kein Internetzugang hergestellt werden kann, oder aufgrund ökonomischer Bedingungen, die zahlreiche Menschen von der Teilnahme wegen mangelnder finanzieller Möglichkeiten ausschließen, mit Informationsfreiheit und der Freiheit der Meinungsäußerung nicht mehr vereinbar ist. Was jeweils zu einer menschenrechtlich gesehen unzulässigen Ausschließung führt, hängt von der kulturellen Entwicklung selbst ab. Solange die Internetkommunikation nur für kleine Minderheiten der Weltgesellschaft möglich war, konnte der Zugang zum Internet noch kein Menschenrecht sein. Je bedeutsamer die Internetkommunikation im Vergleich zu anderen Medien der Kommunikation jedoch wird und je größer der Anteil derjenigen, die an dieser teilnehmen, desto deutlicher heißt Ausschluss von der Internetkommunikation zugleich Einbuße essenzieller Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten. Die Chancen, sich Informationen fast kostenfrei zu besorgen (einmal abgesehen vom Internetzugang selbst), geben dem Internet im Vergleich zu den meisten anderen Medien einen besonderen Status. Dies macht den Ausschluss von der Internetkommunikation gravierender. So wie gesetzliche Regelungen in die Grundrechtswidrigkeit hineinwachsen können, so kann der Ausschluss vom Internetzugang zu einer Menschenrechtsverletzung durch die Veränderung der medialen und kulturellen Bedingungen werden. Dieser Zeitpunkt scheint mir nicht mehr fern zu sein.
2. Internet und Menschenrechte
Eine ganz andere Frage ist diejenige, ob das Internet als Kommunikationsmedium der Realisierung von Menschenrechten in der politischen Praxis förderlich ist oder nicht. Vor über zehn Jahren kam eine Studie der Carnegie-Stiftung am Beispiel Kuba und China zu einem negativen Ergebnis. Demnach können diktatorische Regime das Internet für ihre eigenen Zwecke nutzen und die Möglichkeiten, es gegen solche Regime gegen deren Willen einzusetzen, seien gering. Unterdessen wird man dies differenzierter beurteilen müssen. Spätestens seit dem Arabischen Frühling spricht vieles dafür, dass die Chancen, sich über das Internet zu informieren, zu kommunizieren, sich aber auch zu assoziieren, z.B. um Demonstrationen abzuhalten, politisch von großer Wirksamkeit sein können. Selbst das geschmeidige und zugleich rücksichtslose Vorgehen der chinesischen Regierung gegenüber Dissidenten und den sich eröffnenden Wegen des Internets zeigt sich als beschränkt wirksam. Die technischen Möglichkeiten, Internetsperrungen zu umgehen, sind derart zahlreich und die Kontrollmechanismen derart schwach ausgeprägt, dass das Internet insgesamt betrachtet nach meiner Einschätzung der Realisierung einer menschenrechtskonformen politischen und juridischen Praxis eher förderlich als hinderlich ist. Das Internet bietet zumindest eine Chance, die Konturen einer Weltzivilgesellschaft zu entwickeln. Noch ist die Internetkommunikation nicht hinreichend inklusiv, um von einer über die Internetkommunikation etablierten Weltbürgerschaft zu sprechen. Aber die jüngste Entwicklung, einschließlich der zunehmenden Rolle von sogenannten Social Media, wie Facebook mit unterdessen fast einer Milliarde Teilnehmer (ein Siebtel der Weltbevölkerung), weisen – trotz aller Kommerzialisierung – in diese Richtung.
3. Internetkommunikation und Menschenwürde
Es ist ein Novum in der Menschheitsgeschichte, dass das individuelle menschliche Leben als unantastbar gilt, dass es jedenfalls nicht lediglich Instrument zur Verfolgung anderer Zwecke sein darf. Dieser Einsicht ist ein langwieriger kultureller Prozess vorausgegangen, der in unterschiedlichen Phasen in unterschiedlichen Weltregionen sich recht ungleichzeitig entwickelt hat. Rücksichtnahme gegenüber anderen hat in allen Kulturregionen seine je unterschiedlichen Wurzeln. In einigen spirituellen Ausprägungen umfasst diese Rücksichtnahme, dieses Gebot der Empathie und der Nichtinstrumentalisierung, nicht nur Menschen, sondern auch nicht menschliche Lebewesen, wie in zahlreichen Varianten des Buddhismus und Hinduismus. Ein Merkmal dieser kulturellen Humanisierung als Vorbedingung einer politisch und juridisch wirksamen Etablierung von Menschenrechten ist die Stigmatisierung menschenverachtenden Umgangs und das Verbot, sich an Tod und Leid anderer zu ergötzen. Die mittelalterliche Praxis der zur Schau gestellten Exekutionen, der Vierteilungen, der Teer- und Federungen, der Hexenverbrennungen, des öffentlichen Prangers, der Bloßstellung vor der jeweiligen Gemeinschaft, gehört zur Vorgeschichte der Entdeckung und der Realisierung der Menschenrechte, zur Vorgeschichte einer Politik der Würde. Die Nachtseite der Internetkommunikation ist, dass hier eine kulturelle Regression stattfindet, die nicht nur einzelne Erwachsene mit instabilem Charakter, sondern auch zunehmend Jugendliche und Kinder umfasst. Sosehr ich die Sorge der Internetnutzer verstehen kann, dass jede Form von Kontrolle zur staatlichen Zensur führen könnte, so unverzichtbar ist hier jedoch auch der klare Blick. Es hat keinen Sinn, sich über diese Phänomene hinwegzutäuschen, sie kleinzureden oder für kulturell irrelevant zu erklären. Die kulturelle Regression beginnt bei der öffentlichen Zurschaustellung von Mord, Totschlag und Grausamkeit und endet in dem vermeintlich harmlosen Spiel (nicht nur von Jugendlichen) des Internetmobbings, das viele Jugendliche in die Verzweiflung und einzelne in die Selbsttötung treibt. So wie das Gesamt der alltäglichen Kommunikation auf der Einhaltung bestimmter Normen und Regeln, wie der der Wahrhaftigkeit, des Vertrauens und der Verlässlichkeit, beruht und diese Regeln als Einschränkungen allgemein akzeptiert sein müssen, um einen humanen Umgang miteinander zu ermöglichen, so gilt auch für das Internet, dass es ohne funktionierende Ethos-Normen nicht geht. Dies ist den meisten Internet-Communitys sehr wohl bewusst. Der geradezu exzessive Gebrauch von Ethos-Normen und die rigide Sanktionierung über Shitstorms und individuelle Unmutsbekundungen sind dafür ein Hinweis. Je weniger juridisch sanktionierte Normierung, desto wichtiger ist die kulturelle Praxis. Mein Appell geht also dahin, nicht zuzulassen, dass die Möglichkeiten des Internets zu einer gefährlichen kulturellen Regression, zur Inhumanität des Umgangs miteinander unter dem Schutz der Anonymität, zur Ausgrenzung Andersdenkender, zu Hassaufrufen, zum Verfall der Zivilgesellschaft führen und damit die kulturellen Grundlagen der Demokratie zerstören.