Der Schutzbereich und die Schranken der Internetfreiheit
Der Schutzbereich und die Schranken der Internetfreiheit
Replik: Akademisch-Technische Community
Ingolf Pernice, Humboldt-Universität zu Berlin
Kernaussage
Internetfreiheit kann ein Grundrecht der Kommunikation und Öffentlichkeit im weitesten Sinne sein, nichtsdestotrotz muss dargelegt werden, welche Grundrechte und darüber hinausgehenden Werte sie genau umfasst, um nachhaltig über ihre Schranken und deren Schranken-Schranken zu diskutieren.
Inhaltsverzeichnis |
Der Schutzbereich und die Schranken der Internetfreiheit
Bedeutung und Grundlagen der Internetfreiheit
Der Begriff der Internetfreiheit gehört nicht zu den klassischen Bezeichnungen von Grund- oder Menschenrechten in den Verfassungen der Staaten oder auch in den europäischen oder internationalen Instrumenten zum Menschenrechtsschutz. Es stellt sich daher die Frage, was denn genau damit gemeint ist. Der sehr instruktive Beitrag von Rolf H. Weber gibt einige Anhaltspunkte dazu, etwa dass als Grundrecht die Meinungs- und Medienfreiheit, so wie sie in Art. 10 EMRK oder auch in Art. 5 GG garantiert ist, im Zentrum stehe. Genannt ist vor allem auch das Zensurverbot, dessen Beachtung gewiss eine fundamentale Voraussetzung effektiver Internetfreiheit ist. Doch ist damit das abgedeckt, was Internetfreiheit ist oder sein könnte? Und geht die Idee der Internetfreiheit vielleicht sogar über das hinaus, was mit den bekannten klassischen Grundrechten geschützt wird, was es dann rechtfertigen könnte, die Internetfreiheit als eigenes, neues Grundrecht zu postulieren und evtl. zu positivieren?
Wie im Beitrag von Rolf H. Weber angedeutet, geht es bei der Internetfreiheit zentral um die Freiheit der Kommunikation: „Internetkommunikation“. Dies umfasst die Verbreitung wie auch den Empfang von Daten oder Informationen und Meinungen. Das n:n-Prinzip macht es möglich, dass jeder gleichermaßen Sender und Empfänger ist. Internetfreiheit umfasst also die Meinungs- und die Medienfreiheit, zugleich aber auch die für eine lebendige Demokratie wie für einen funktionsfähigen Markt unerlässliche Informationsfreiheit. Zunehmend wird auch darüber zu befinden sein, ob die gleiche, uneingeschränkte Teilhabe am Internet, also der Zugang zum Netz, die Möglichkeit der Beteiligung an sozialen Netzwerken, das Einkaufen im Internet und vor allem die Internettelefonie per Skype oder ähnliche Dienste zum Element des menschenwürdigen Daseins wird und damit zur Aufgabe öffentlicher Gewährleistung. Die Vertraulichkeit der Datenübermittlung per E-Mail sollte vom Brief- und Postgeheimnis geschützt sein. Die künstlerische Gestaltung von Webseiten, das Einstellen eigener literarischer Werke, Produktionen, Informationen, künstlerischer Werke, Fotos und Filme, aber auch die künstlerische Umgestaltung und kreative Weiterentwicklung verfügbarer Werke im Internet sind auf der Werk- und der Wirkebene von der Kunstfreiheit geschützt. Die wissenschaftliche Recherche im Internet ebenso wie die Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse, Schriften oder Vorträge im Internet und die Nutzung des Internets für Online-Lehr- und Bildungsangebote sind von der Freiheit von Forschung und Lehre gewährleistet, wie Art. 5 Abs. 3 GG sie garantiert . Im gleichen Sinne erscheint es problematisch, den interessierten Nutzer vom jedenfalls technisch möglichen und durch entsprechende neue Geschäftsmodelle zu regelnden Zugang zu Literatur- und Musikwerken, Filmen, Lehrmaterial, Dokumentationen und anderen Bildungs- und Kulturdiensten per Internet auszuschließen. Selbst die Religionsfreiheit könnte gewisse Internetangebote gegen Eingriffe des Staates schützen und seinen Schutz gegen Gefährdungen durch Private fordern. Das Angebot von Internetdiensten jeder Art fällt unter die Berufsfreiheit, und die Organisation von politischen Bewegungen, Wahlwerbung und jede andere Form der Nutzung des Internets zur Herstellung von Öffentlichkeit und politischer Willensbildung fallen unter den Schutz der politischen Freiheiten im demokratischen Gemeinwesen. Internetfreiheit in diesem weiten Sinne ist also nichts Neues, sondern von den verschiedenen Grundrechten umfassend gewährleistet und als Element objektiver Wertordnung auch positiv dem Schutze und der Förderung durch den Staat überantwortet. Für die praktische Bedeutung und Bindungskraft der Internetfreiheit ist es wichtig, durch welche Rechtsinstrumente mit welchen Adressaten sie gewährleistet ist. Innerstaatlich ist die öffentliche Gewalt durch die von der Verfassung garantierten Grundrechte gebunden. Die oben genannten Beispiele zeigen, wie umfassend der Schutz ist. Er wird in den europäischen Ländern ergänzt durch die Europäische Menschenrechtskonvention und – freilich mit geringer Wirkmacht – weltweit durch den UN-Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR). Aus diesen Instrumenten sind die Staaten völkerrechtlich zum Schutz der Einzelnen verpflichtet, die ihre Rechte etwa vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geltend machen können. Auch wenn es international eine Individualbeschwerde nur im Rahmen eines Fakultativprotokolls zum IPbpR gibt, verkörpern die hier gewährleisteten Rechte zusammen mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 jedenfalls eine objektive Wertordnung, die das Verhältnis zwischen den Staaten prägt und sie gegenseitig zur Achtung dieser Rechte verpflichtet. In der Erklärung der Menschenrechte sollte Art. 19 besondere Beachtung finden: Das hier weitsichtig garantierte Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert zu verbreiten „sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zum empfangen und zu verbreiten“. Wenn Art. 26 das Recht auf Bildung garantiert und verlangt, dass Fach- und Berufsschulunterricht allgemein verfügbar gemacht werden und der Hochschulunterricht allen gleichermaßen gemäß ihren Fähigkeiten offen steht, werden diese Garantien angesichts der neuen Möglichkeiten des Internets zur realistischen Chance. Das gilt auch für das kulturelle Leben: Art. 27 gibt jedem das Recht, „am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich an den Künsten zu erfreuen und am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Errungenschaften teilzuhaben“. Auch dieses Menschenrecht erscheint im Zeitalter des Internets in neuem Licht. Umgekehrt sorgt der zweite Absatz des Art. 27 der Menschenrechtserklärung für Ausgewogenheit: Danach hat jeder „das Recht auf Schutz der geistigen und materiellen Interessen, die ihm als Urheber von Werken der Wissenschaft, Literatur oder Kunst erwachsen“. Art. 13 ff. des UN-Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte unterstreicht und konkretisiert diese Rechte. Das Recht, im weitesten Sinne am kulturellen Leben teilzunehmen, Art. 15 Abs. 1 a) IPwskR, erhält mit dem Internet eine realistische Perspektive.
Vor dem Hintergrund des international geforderten Schutzes ist auch die Europäische Union zur Achtung der Grund- und Menschenrechte verpflichtet. Was zunächst vom EuGH in der Form allgemeiner Rechtsgrundsätze entwickelt wurde, findet nunmehr in einzelnen Bestimmungen der Unionsverträge, insbesondere in Art. 6 EUV i.V.m. der Charta der Grundrechte verbindlichen Ausdruck. Das Besondere ist hier, dass nicht die Staaten, sondern primär die Organe der Union selbst in ihrem Handeln an die Grundrechte gebunden sind und der effektive Rechtsschutz der Einzelnen durch den EuGH in Kooperation mit den nationalen Gerichten gewährleistet ist. Dabei garantiert schon die Bestimmung des Art. 15 AEUV den Zugang zu Dokumenten der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union und verlangt, dass diese Stellen „die Transparenz ihrer Tätigkeit“ gewährleisten. Art. 42 GRCh greift dies auf und verbürgt den Zugang zu Dokumenten allgemein als Grundrecht. Das Recht auf freie Meinungsäußerung schließt nach Art. 11 GRCh „die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben“. Ebenso wie das in Art. 14 GRCh für „jede Person“ garantierte „Recht auf Bildung sowie auf Zugang zur beruflichen Ausbildung und Weiterbildung“ kann die europäisch so definierte Informationsfreiheit angesichts der Möglichkeiten, die das Internet bietet, Grundlage für eine weitreichende dynamische Auslegung und Anwendung dessen sein, was die Internetfreiheit ausmacht: ein Grundrecht der Kommunikation und Öffentlichkeit im weitesten Sinne. Auch die in Art. 13 GRCh garantierte Freiheit von Kunst und Forschung, die Berufsfreiheit und die unternehmerische Freiheit nach Art. 15 und 16 GRCh bieten sich an, als Ausdruck allgemeiner, aus den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und internationalen Instrumenten zum Schutz der Menschenrechte entwickelter Rechtsgrundsätze der Internetfreiheit grenzüberschreitend Bedeutung und Gewicht zu verleihen.
Schranken der Internetfreiheit und Schranken-Schranken
Erst wenn geklärt ist, welche Grundrechte und welche möglicherweise darüber hinaus gehenden Werte (Transparenz, Öffentlichkeit, Kultur, Demokratie) die Internetfreiheit einschließt, wird es sinnvoll, über ihre Schranken und weiter die Schranken-Schranken, d.h. die Grenzen zulässiger Eingriffe in die Internetfreiheit, nachzudenken. Keine Freiheit ist absolut, es gibt die Freiheit der anderen, aus der Menschenwürde und dem daraus entwickelten Persönlichkeitsrecht folgen ein Grundrecht auf Schutz persönlicher Daten sowie Schutzpflichten des Staates, etwa hinsichtlich der informationellen Selbstbestimmung. Entsprechend gewährleisten Art. 8 EMRK den Schutz der Privatsphäre und Art. 8 GRCh das Grundrecht auf Datenschutz. Art. 16 AEUV gibt der Europäischen Union die Kompetenz, entsprechende Vorschriften für die Organe der Union und die Mitgliedstaten im Anwendungsbereich des Unionsrechts zu erlassen, einschließlich von Bestimmungen über den freien Datenverkehr. Das Eigentumsgrundrecht umfasst grundsätzlich auch den Schutz des geistigen Eigentums. Doch ist damit keine konkrete Aussage über Bedingungen, Umfang und Grenzen dieses Schutzes gegenüber anderen Werten und öffentlichen Interessen getroffen. Die notwendige Abwägung im Sinne eines grundrechtlichen Interessenausgleichs nach dem Maßstab praktischer Konkordanz obliegt dem Gesetzgeber. Zu den „Gegenrechten“ der Internetfreiheit gehören auch die aus dem grundrechtlichen Schutz von Leben und Gesundheit, der Rechte der Persönlichkeit und Freiheit sowie des Eigentums folgenden öffentlichen Sicherheitsinteressen. Hier sind Beschränkungen der Internetfreiheit zulässig – wie Beschränkungen anderer Grundrechte auch.
Voraussetzung zulässiger Beschränkungen ist allerdings nach allgemeinen, von Rolf H. Weber sehr klar dargestellten Grundsätzen, dass die der Internetfreiheit gesetzten Beschränkungen geeignet und erforderlich sind, um einen legitimen Zweck des Gemeinwohls zu erreichen, und den Wesensgehalt des Grundrechts nicht antasten. Hierzu sind konkretere Aussagen nur im Einzelfall möglich. Allerdings ist schon bei der Geeignetheit der Maßnahme als wesentlicher Aspekt zu berücksichtigen, inwieweit eine staatliche oder auch eine europäische Regelung etwa zum Datenschutz oder zum Schutz des Urheberrechts überhaupt den ggf. legitimen Schutzzweck hinsichtlich der informationellen Selbstbestimmung oder der Persönlichkeitsrechte erreichen kann. Möglicherweise ist der Schutzzweck effektiv nur über eine globale Regelung zu erreichen, sodass darüber nachgedacht werden müsste, in welcher Form eine staatenübergreifende Regulierung, orientiert an den weltweit geltenden Grundrechtsstandards und Werten, demokratisch legitimiert geschaffen werden kann.
Die zwischenstaatliche Dimension der Internetfreiheit
Dass sich aus völkerrechtlichen Rücksichtnahme- und Kooperationspflichten Grenzen für die Begrenzung der Internetfreiheit ergeben könnten, diese also wie die Verfassung selbst den Staat und die demokratisch legitimierte Ausübung öffentlicher Gewalt auf nationaler Ebene begrenzen, ist eine Beobachtung, die zu grundsätzlicheren theoretischen Überlegungen Anlass gibt. In einem Beitrag von 2009 über das „Law for States: International Law, Constitutional Law, Public Law“[1] bringen Jack Goldsmith und Daryl Levinson die Ähnlichkeit der Wirkungen von Verfassungsrecht und Völkerrecht für den Staat auf den Punkt. Dies erlaubt es in der Tat, auch völkerrechtliche Pflichten der öffentlichen Gewalt von Staaten als rechtliche Grenzen ihrer Handlungsfreiheit zu verstehen. Insbesondere die von Rolf H. Weber angesprochenen extraterritorialen Auswirkungen nationaler Maßnahmen könnten unter diesem Gesichtspunkt in neuem Licht betrachtet werden. Zum einen stoßen sie auf Grenzen, die anerkannte Grundsätze des Völkerrechts setzen: Genannt werden die Prinzipien der Rücksichtnahme, der Nichteinmischung, der Vorsorge der Zusammenarbeit und der Verantwortung oder Haftung. In einem weiteren Sinne reflektieren diese Prinzipien aber auch verfassungsrechtliche Maßstäbe und Bindungen: Wie sind die externen Effekte nationaler Politik demokratisch zu legitimieren? Was für die Schranken der Internetfreiheit gilt, zeigt sich noch drastischer an anderen globalen Herausforderungen wie dem Klimawandel: Eine sorglose CO2-Politik hier führt zum Untergang ganzer Staaten im Südpazifik. Wenn Demokratie Legitimation von Entscheidungen durch die Betroffenen bedeutet, kann diese in manchen Bereichen nur global verwirklicht werden. Wo es um die Zuordnung von Freiheiten und Gegenrechten im globalen Zusammenhang geht, sollte das ebenso gelten. Die Freiheit des Internets und ihre Schranken können nur global geregelt werden.
- ↑ Landmann Goldsmith III, J. & Levinson, D.J., 2009. Law for States: International Law, Constitutional Law, Public Law. Harvard Public Law Working Paper, 16(09). http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=1340615