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Die Internetfreiheit im Zeitalter der prekären staaatlichen Legitimität

Die Internetfreiheit im Zeitalter der prekären staaatlichen Legitimität

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MIND #3
Grenzen der Internetfreiheit
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Replik: Zivilgesellschaft

Wolf Ludwig, ICANN

Kernaussage
In der digitalen Welt braucht es weniger Regulierungen durch Staaten, sondern vielmehr zwischen Stakeholdern.


Inhaltsverzeichnis

Internetfreiheit im Zeitalter der prekären staatlichen Legitimität

Aus Nutzersicht lassen sich – grob verallgemeinert – folgende Befindlichkeiten zur Frage „Gibt es Grenzen für staatliche Beschränkungen der Internetfreiheit?“ abschätzen: Das Netz soll möglichst offen, zugänglich, barrierefrei und ohne längere Einführung einfach zu nutzen sein. Wie dieses weltweite Netz hinter der Nutzeroberfläche genauer funktioniert – technisch, regulatorisch, rechtlich etc. –, ist für den „durchschnittlichen“ Nutzer undurchsichtig bis irrelevant. Man muss schließlich auch nichts von Mechanik und Elektronik verstehen, um Auto zu fahren. Lediglich bei den Jüngeren, den digitalen Eingeborenen, ist eine viel höhere Affinität und Kenntnis von Technik, Informatik und regulatorischen Zusammenhängen festzustellen, was sich spätestens mit dem Aufkommen der Piratenparteien politisch manifestiert. In seinem Aufsatz verweist Rolf Weber auf das schon legendäre Manifest von John Perry Barlow,[1] das ebenso radikal, kategorisch und programmatisch klingt wie das Verdikt von Che Guevara „Ideen sterben, wenn sie Kompromisse werden“, das einst die 68er-Generation prägte. In seiner pointierten Radikalität verkündete Barlow nicht nur ein neues Zeitalter, sondern skizzierte den absehbaren Paradigmenwechsel einer Internet-Regulierung. Er bezeichnete damit das Ende klassischer Top-down-Modelle wie Telekommunikations- und Medienregulierung, die bis dahin immer noch auf Grundlagen wie Territorialität und Souveränität – oder dem „Westfälischen Prinzip“ – beruhten.[2] Barlow prophezeite damit auch den im Internet-Zeitalter überkommenen nationalstaatlichen Primat der Gesetzgebungshoheit und skizzierte damit neuartige Grundlagen dessen, was wir heute als Internet Governance diskutieren und bezeichnen.

WSIS als Vorübung

Bei den Vorbereitungstreffen (PrepComs) zum Weltgipfel zur Informationsgesellschaft (WSIS I)[3] 2003 in Genf war noch eindrücklich zu beobachten, dass nur ein kleiner Teil der versammelten Regierungsvertreter eine ungefähre Vorstellung von den Besonderheiten des Internets hatte. Die meisten (nicht nur in Regierungskreisen) hielten das Internet noch für eine Art Wurmfortsatz der Telekommunikation, der nach den gleichen Regeln und Verfahren zu behandeln sei. In Genf und danach 2005 in Tunis wollten viele lieber über die schönen neuen Technologien (ICT), jedoch weniger über deren gesellschaftliche Auswirkungen sprechen, was zum Mandat des WSIS gehörte (UN-ICT Task Force, 2001). Mit den Tunis-Verpflichtungen (Commitments, 2005) wurde gemäß den Visionen Barlows ein neuer „Gesellschaftsvertrag“ eingeleitet: „Eure Rechtsvorstellungen von Eigentum, Redefreiheit, Persönlichkeit, Freizügigkeit und Kontext treffen auf uns nicht zu. Sie alle basieren auf der Gegenständlichkeit der materiellen Welt. Es gibt im Cyberspace keine Materie.“[4] Und dieser Paradigmenwechsel kennzeichnet gewissermaßen den Anfang vom Ende nationalstaatlicher Machtentfaltung und Gesetzgebungshoheiten und verweist Regierungen schnell in ihre Schranken.

Spätestens seit dem Arabischen Frühling haben die Mächtigen und Herrschenden, insbesondere Despoten dieser Welt begriffen, dass mit neuen Technologien und Medien ihre Machtbasis schneller bröckelt als jemals zuvor. Zeitungen lassen sich einstampfen, Rundfunkstationen schließen, doch das Internet mit seinen vielzähligen Kommunikationsmitteln und Netzwerken entzieht sich weitgehend ihrer gewohnten Kontrolle wie ihrem Zugriff. Doch auch in demokratisch regierten und rechtsstaatlich geordneten Ländern erleben wir weiterhin die alten Reflexe und gewohnten Rückgriffe auf tradiertes wie hilfloses Regierungshandeln. Dabei geht es nicht nur um die rechtliche Frage, „welche staatlichen Eingriffsmöglichkeiten in individuelle Freiheitsrechte legitimierbar sind?“ – national oder international. Auch bisher scheinbar verlässliche Begriffe, Bezugsgrößen oder Schranken wie „Rechtfertigung (Legitimität)“ oder „Verhältnismäßigkeit“ (Weber) geraten zunehmend aus den Fugen. Mögen Regierungen und deren Institutionen in demokratisch verfassten Ländern noch solide legitimiert sein, wird die „Legitimität“ ihres Handelns spätestens dann fragwürdig und hinterfragt, wenn die Mehrheit in Parlamenten wie des politischen Personals die Grundlagen dessen, was sie regulieren wollen, offenkundig nicht mehr versteht. Ein wöchentlicher Blick auf heise online, Spiegel Online Netzwelt oder netzpolitik.org genügt, um dieses Missverhältnis zu verdeutlichen. Bei der Legitimität solcher (Miss)Verhältnisse haben immer mehr digitale Eingeborene (digital natives), netzbewegte Bürger und Internet-Nutzende offenbar große Probleme, sonst wären die fulminanten Wahlerfolge einer Piratenpartei bei den Landtagswahlen in Berlin (8,9 Prozent) und jüngst im Saarland (7,4 Prozent) nicht so augenfällig.

Grauzonen von Legitimität als Verhältnismäßigkeit

Kritische Zeitgenossen sprechen von einem Zeitalter der prekären Legitimität. Die Anerkennung von politisch getroffenen Entscheidungen ist heute weniger selbstverständlich als noch vor zwei oder drei Dekaden. Sie muss heute intensiver begründet, vermittelt und erarbeitet werden. Kann man bei der demokratischen Legitimität von Regierungshandeln noch zustimmen, wird spätestens die Frage der „Verhältnismäßigkeit“ von geplanten oder vollzogenen gesetzgeberischen Eingriffen zum Problem. Fallbeispiele solch zweifelhaften Regierungsverhaltens – in Kollaboration mit mächtigen Wirtschaftsinteressen – erleben wir seit einiger Zeit mit sogenannten „Zugangserschwerungsgesetzen“ („Zensursula-Debatte“ – Deutschland), HADOPI (Frankreich), SOPA, PIPA, dem Digital Millennium Copyright Act (DMCA) (USA) und dergleichen staatlichen Eingriffen in die Internet-Freiheit. Auch das internationale Handelsabkommen Anti-Counterfeiting Trade Agreement, besser bekannt unter dem Kürzel ACTA, ist nach anfänglichen Geheimverhandlungen inzwischen zum öffentlichen Politikum geworden. Mit solchen Übungen sollten, wie Rolf Weber ausführt, „Schranken durch ein Gesetz eingeführt“ werden, wobei „die Schrankennorm mit hinreichender Präzision und Klarheit festlegen muss, inwieweit die informationelle Freiheitsausübung eine Beschränkung erfahren soll“ (Weber). In der öffentlichen Wahrnehmung wurden jedoch bald grundlegende Fragen wie erhebliche Mängel deutlich: fragwürdige Akzeptanz unter den Internet-Nutzenden, die Verhältnismäßigkeit der Mittel solch staatlicher Eingriffe und wer entscheidet genau wann über Eingriffe und den Einsatz solcher (Überwachungs- und Kontroll-)Mittel und nach welchen rechtsstaatlichen Prinzipien? Eine Strafverfolgungsbehörde nach eigenem Ermessen (Exekutive) oder ein Richter (als unabhängige dritte Gewalt)?

Neben einer mangelnden Abwägung, welcher Zweck welche Mittel – und in wessen Interesse – heiligt, sind ferner weitere Ungereimtheiten solch staatlicher Regulierungsbemühungen augenfällig: Dürfen private Dienstanbieter wie Internet Service Provider (ISP) zu Handlangern und Hilfspolizisten von Strafverfolgungsbehörden herangezogen, missbraucht und verpflichtet werden? Auf wessen Weisung und nach welcher Einzelfallprüfung? Amtsbegehren oder richterlicher Beschluss? Schon bei diesen simplen Grundsatzfragen sind in den genannten Fällen offenbar die rechtsstaatlichen Koordinaten verrutscht. Und wenn solche Gepflogenheiten selbst in verbrieften Rechtsstaaten nicht mehr gewährleistet sind, darf man mit Rolf Weber gerne weiter räsonieren: „Die Praxis hat gelehrt, dass diejenigen (eher autoritären) Staaten, welche die Kontrolle des Internetverkehrs ernsthaft ausüben wollen, sich entweder um eine ausreichende gesetzliche Grundlage für die Überwachung bemühen oder deshalb auf deren Erlass verzichten, weil das Risiko einer Anfechtung der getroffenen Maßnahme im Lichte des gegebenen Justizsystems eher unwahrscheinlich ist“ (Weber). Den deutschen Internetnutzern bleibt zumindest die Gewissheit, beim Bundesverfassungsgericht einen zuverlässigen Verbündeten bei der Wahrung ihrer Grundrechte zu haben.

Unheilige Allianzen

Nicht nur in den USA sind immer wieder Wechselbäder zu beobachten: Zwischen vollmundigen Ansprüchen der politischen Führung (Al Gore, Hillary Clinton etc.) und den Niederungen des Politikbetriebs und dessen Administration, die weiterhin und unermüdlich in die SOPA- und PIPA-Mottenkiste greifen. Auch Begehrlichkeiten und Gier von Wirtschaftsverbänden scheinen bisweilen hemmungslos. Seit Jahren versuchen Verleger (nicht nur) in Deutschland wie in der Schweiz, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk im analogen Zeitalter einzumotten. Die gleichen Verleger – die sonst staatliche Enthaltsamkeit predigen – fordern nun beharrlich gesetzliche „Leistungsschutzrechte“, weil sie durch das Internet ihre Geschäftsmodelle bedroht sehen. In einem Gutachten kommt der deutsche Rechtsprofessor und ehemalige Richter Thomas Hoeren zu einem klaren Fazit: „Seit Jahren ist eine einseitige Verschiebung des Rechtssystems zugunsten der Rechteinhaber erkennbar. Es gibt mittlerweile genügend zivil- und strafrechtliche Sanktionierungsmittel. Dieser Rechtsrahmen stellt den Rechteinhabern ausreichende Instrumentarien zur Durchsetzung ihrer Rechte zur Verfügung. Sinnvoller als eine weitere Verschärfung der jetzigen Rechtslage wäre eine grundsätzliche Reform des Urheberrechts, das eine Anpassung an die Ansprüche des digitalen Zeitalters beinhaltet.“ Sollte sich der Schulterschluss zwischen Regierungs- und Wirtschaftsmacht bei der Internetregulierung durchsetzen und zur künftigen Richtschnur werden, können Zivilgesellschaft und Nutzer nur verlieren („the user will be the looser“ – frei nach Kleinwächter ).

Die vielfältigen Herausforderungen und Risiken auf internationaler Ebene hat Wolfgang Kleinwächter eindrücklich in seinem „Internet Governance Outlook 2012: Cold War or Constructive Dialogue?“ beschrieben. Dazu gehören hartnäckige Bestrebungen zweifelhafter Regierungen, die der Internationalen Fernmeldeunion (ITU) mehr Kompetenzen bei der Internet-Regulierung zuschanzen wollen, weil sie darauf vertrauen, dann wieder Herr im Haus zu werden und Verfahren UN-bürokratisch zu entschleunigen – mit absehbaren wie verhängnisvollen Folgen. Ein neuer Anlauf steht im Dezember in Dubai bevor, wenn die ITU den Vertrag zur Telekommunikationsregulierung (International Telecommunication Regulations – ITRs) von 1988 neu verhandelt. ITU-Generalsekretär Hamadoun Touré ist ja hinlänglich bekannt dafür, dass er um jeden Preis mehr Macht und Zuständigkeiten fürs Internet will. Doch die Vereinten Nationen als „Organisation des Industriezeitalters“ (Kleinwächter, 2003) werden Herausforderungen, Komplexität, Dynamik und Tempo des Informationszeitalters mit ihren bürokratischen Tendenzen und regierungsgesteuerten Instrumenten nicht bewältigen, sondern allenfalls beschädigen können. In der digitalen Welt braucht es weniger Regulierungen durch Staaten, sondern vielmehr zwischen Stakeholdern.

Bekannte Ansätze

Beispiele für richtungsweisende Modellierung und Regulierung des Netzes sind neben ICANN vielmehr die verschiedenen Initiativen des Europarats, zivilgesellschaftliche Bündnisse für Internet Rights and Principles (IGF Coalition) oder auf nationalstaatlicher Ebene die neue Consumer Privacy Bill of Rights, die jüngst in den USA auf den Weg gebracht wurde. „Bisher regulieren lediglich Marktmechanismen und multilaterale Handelsabkommen internationale Telekommunikation und den grenzüberschreitenden Fluss von Informationen. Der Ansatz der polyzentrischen Internet Governance dagegen ermöglicht allen drei Stakeholder auf Grundlage einer weltweit verbindlichen Basis effektive Selbstregulierung“, urteilt Matthias Kettemann, Ko-Präsident der Koalition für Internet Rights and Principles. Die zivilgesellschaftlichen Spielräume, die ICANN, IGF und vergleichbare Foren bieten, sind zwar begrenzt, bisweilen mühsam, aber dennoch vielversprechend. Denn sie ermöglichen Teilhabe auf Augenhöhe und nicht nur am Katzentisch (UN-Beobachterstatus). Interessenabgleich, Konsultation, Aushandlungsprozesse und Konsensfindung unter allen Beteiligten – in ihren jeweiligen Rollen – bieten den einzigen Ausweg. Und im Widerspruch zu Guevara sind dazu Ideen und Kompromisse notwendig. Rechtliche Expertise und Debatten um die Regulierung des Netzes sind gewiss wichtig und bereichern den Fachdiskurs, aus Nutzersicht bleiben sie jedoch meist abstrakt und kaum nachvollziehbar. Und die maßgeblichen Antworten und Entscheidungen müssen obendrein Politik, Wirtschaft und Gesellschaft liefern. Denn so sagte bereits der frühere SPD-Politiker und Rechtsprofessor Horst Ehmke so flapsig wie treffend: „Die Weltgeschichte ist kein Amtsgericht.“


  1. Barlow, John Perry, A Declaration of the Independence of Cyberspace, Davos, Februar 1996, https://projects.eff.org/~barlow/Declaration-Final.html sowie Telepolis (deutsche Fassung), http://www.heise.de/tp/artikel/1/1028/1.html
  2. Westphalian Sovereignity, April 2012, http://en.wikipedia.org/wiki/Westphalian_sovereignty sowie Beaudry, Pierre, The Economic Policy That Made the Peace of Westphalia, Mai 2003, www.schillerinstitute.org/strategic/treaty_of_westphalia.html
  3. WSIS-Mandat, siehe UN-ICT Task Force, November 2001, http://de.wikipedia.org/wiki/UN_ICT_Task_Force
  4. Barlow, 1996
Autoren
Mohamed Hamzé
Sebastian Haselbeck
Mohamed Hamzé
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