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Die föderalistische Vielfalt an den Enden des Netzes

Die föderalistische Vielfalt an den Enden des Netzes

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Thomas Schneider, Bundesamt für Kommunikation (BAKOM) Schweiz


A) Demokratie führt nur zu Selbstbestimmung, wenn sie richtig „organisiert“ ist

Zur Idee des Humanismus gehört es, die Freiheiten und die Würde des einzelnen Menschen in einer Gesellschaft zu gewährleisten und zu fördern. Humanismus beinhaltet aber auch die Vorstellung eines Mitgefühls für andere, insbesondere für die Schwächeren in einer Gesellschaft. In dieser Idee ist also eine Grundspannung enthalten, da sich gewisse individuelle Freiheiten und Grundrechte gegenseitig beschneiden. In einer Gesellschaft sind die Individuen in der Ausübung ihrer Freiheiten und Grundrechte in der Regel begrenzt, nämlich spätestens dann, wenn die Freiheiten und Rechte des einen diejenigen des anderen beschneiden. Zudem kann die Ausübung von Freiheiten und Grundrechten durch ein Individuum die Würde eines anderen kompromittieren. In unterschiedlichen Kulturen, aber auch zwischen Individuen, die derselben Kultur angehören, gibt es unterschiedliche Vorstellungen darüber, wo diese Grenzen gezogen werden sollen. Im Idealfall sollte jeder möglichst selber bestimmen können, wo für ihn diese Grenze zu ziehen ist. Die Demokratie ist zwar die Staatsform, die diesem Konzept des Humanismus am ehesten entspricht. Sie kann jedoch nur die Ziele des Humanismus – Respekt von Freiheiten, Grundrechten und Menschenwürde –, und zwar eine selbstbestimmte Balance zwischen diesen fördern, wenn sie gewisse Grundprinzipien berücksichtigt.


1. Demokratische Prozesse müssen alle Betroffenen einschließen und möglichst dezentral geschehen

Erst mal müssen alle Menschen an demokratischen Prozessen teilhaben können, die auch von den entsprechenden Entscheiden betroffen sind. In nationalstaatlich organisierten und auf Bürgerrechten basierenden Demokratien können demokratisch legitimierte Entscheide gefällt werden, welche für die Stimmberechtigten monetäre oder andere Vorteile und für die Nichtstimmberechtigten im In- oder Ausland Nachteile bringen. Wenn die Grenzen für die Teilnahme an demokratischen Entscheiden falsch gezogen sind, können Umweltverschmutzung, aber auch Diskriminierung und Benachteiligung von Angehörigen einer Nationalität in demokratischen Entscheiden legitimiert werden:

Wenn z.B. die Bürger eines Landes demokratisch entscheiden, die Kosten für die Erhaltung der Wasserqualität eines in ihrem Land entspringenden Flusses nicht zu tragen, kann dies für die Bürger des Landes weiter unten am selben Fluss einen großen Schaden bewirken und diese in ihrer Selbstbestimmung (z.B. Erhaltung von Trinkwasser) beeinträchtigen. Wenn eine ganze Nation über den Bau einer Autobahn mitten durch ein kleines Dorf bestimmen kann, die den Dorfbewohnern eine große Lebensqualitätseinbuße bringt, aber dem Rest der Bevölkerung einen Vorteil, kann die Selbstbestimmung der Dorfbewohner radikal eingeschränkt werden. Wenn Immigranten in einem Land nicht stimmberechtigt sind, ist es möglich, dass diese durch demokratische Entscheide der Stimmberechtigten gegenüber den Einheimischen benachteiligt werden.

Zusätzlich zum Prinzip der möglichst einschließlichen Partizipation an demokratischen Prozessen ist also das Prinzip der Subsidiarität, d.h., dass eine Entscheidung möglichst lokal und auf der untersten Ebene einer demokratischen Organisationsform gefällt werden soll, fundamental für eine weitgehende Selbstbestimmung der Individuen in einer Gesellschaft. Je weniger betroffene Menschen von demokratischen Prozessen ausgeschlossen sind und je näher diese bei den Menschen getroffen sind, desto größer sind die Selbstbestimmung der Menschen und auch die Akzeptanz der demokratischen Entscheide in einer Gesellschaft. Das Internet kann also zu einer Demokratisierung beitragen und den Menschen helfen, sich an Prozessen zu beteiligen, die bisher einer (aus-)gewählten Elite von Politikern vorbehalten waren. Für Gesellschaften, welche bereits direktdemokratische Elemente in ihr politisches System eingebaut haben, bringt eine Partizipationsmöglichkeit via Internet nichts fundamental Neues, kann aber dennoch zu einer verbreiterten demokratischen Partizipation führen.

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Thomas Schneider ist Koordinator für die internationale Informationsgesellschaft und stellvertretender Leiter des Internationalen Dienstes des Schweizer Bundesamtes für Kommunikation. Er vertritt die Schweizer Regierung in diversen internationalen Organisationen (u.a. UNO, IGF, ICANN/GAC, Europarat, ITU, OSZE, EuroDIG, UNESCO).


2. Demokratische Prozesse brauchen Transparenz bezüglich Kosten und Nutzen von Entscheidungen

Nur wenn die Mitglieder freien Zugang zu Informationen haben und frei miteinander kommunizieren können, vermögen sie Entscheide zu fällen, die ihren Präferenzen entsprechen: So haben z.B. die Schweizer in einer Volksabstimmung die Einführung einer zusätzlichen bezahlten Woche Ferien abgelehnt, weil sie nicht bereit waren, dafür weniger zu verdienen oder in den restlichen Wochen mehr zu arbeiten. Auch Gesetzesvorlagen, welche den Bürgern mehr Sicherheit verschaffen sollen, werden in der Regel abgelehnt, wenn die Stimmberechtigten der Meinung sind, dass ihre Freiheiten durch erhöhte Sicherheit übermäßig eingeschränkt werden. Genauso müssen sich die Mitglieder der Internet-Community frei über Vor- und Nachteile informieren und austauschen können, wenn sie darüber entscheiden sollen, wie viel und welche Art der Kontrolle durch den Staat sie im Internet haben möchten und was ein allfälliger Preis dafür ist.


3. Demokratie bedingt Solidarität und darf nicht zur Diktatur der Mehrheit über Minderheiten führen

Wenn ein demokratischer Entscheid der gesamten Gesellschaft einen Vorteil, einer kleinen Gesellschaftsgruppe aber einen bedeutenden Nachteil bringt, dann muss die Minderheit von der Mehrheit für diesen Nachteil entschädigt werden. Nur wenn Vor- und Nachteile (z.B. Kosten und Nutzen) eines demokratischen Entscheides fair im entsprechenden Demokratieraum verteilt werden, sind Minderheiten bereit, Entscheide von Mehrheiten zu akzeptieren und diese mitzutragen. Das Prinzip der Solidarität der Mehrheit mit Minderheiten ist insbesondere in demokratischen Gebilden fundamental, in welchen verschiedene Kulturen von unterschiedlicher Größe vereint sind. Wenn beispielsweise die deutschsprachige Mehrheit der Schweizer nicht bereit wäre, freiwillig den französisch- oder italienischsprachigen Minderheiten gewisse Rechte und Leistungen zuzustehen, wären diese Minderheiten nicht bereit, an demokratischen Prozessen auf Landesebene teilzunehmen und Teil der Schweiz zu bleiben. (So sind etwa die Deutschschweizer bereit, über ihre Rundfunkgebühren den öffentlichen Rundfunk der Romanen und der Tessiner mit zu finanzieren, damit diese ebenfalls die gleiche Anzahl Radio- und Fernsehsender genießen können.) Zudem sollte eine multikulturelle Demokratie – egal ob global, national oder lokal – es seinen Mitgliedern ermöglichen, die gleichen Grundprinzipien gemäß den kulturellen Unterschieden unterschiedlich auszuleben. Das Prinzip des Föderalismus gestattet es, auf geografische und kulturelle Unterschiede Rücksicht zu nehmen und – bis zu einem gewissen Grad – verschiedenartige Anwendungen geteilter Grundprinzipien zuzulassen. Das Internet als globale Architektur, welche ohne zentrale Kontrollinstanz und grundsätzlich auf Vertrauen der Netzteilnehmer angelegt ist, entspricht genau dieser Logik: Es kann nur funktionieren, wenn sich die Teilnehmer auf eine Reihe von Grundprinzipien bezüglich gemeinsamer Normen wie Universalität, Interoperabilität und Vertrauen einigen und gleichzeitig eine föderalistische Vielfalt an den Enden des Netzes zulassen, die unterschiedliche Anwendungen erlaubt und so Innovation und Wissen hervorbringt. Genauso wie eine multikulturelle Gesellschaft zerbricht, wenn sie sich nicht auf universale Grundprinzipien und eine Vielfalt bei der konkreten Umsetzung einigt, wird auch das globale Internet aufgesplittert, wenn es nicht gelingen soll, sich auf Grundprinzipien und deren dezentral unterschiedliche Umsetzung zu einigen. Wie viele von allen geteilten Grundprinzipien nötig sind und wie viel dezentrale Vielfalt möglich ist, muss Gegenstand permanenter politischer Debatte sein – im Internet genauso wie in multikulturellen Demokratien offline.


4. Demokratie braucht angemessene Sanktionierungs- und Legitimierungsprozesse

Eine Demokratie funktioniert nur dann, wenn die von der Demokratie festgelegten Spielregeln tatsächlich eingehalten werden. Je größer und heterogener eine Gesellschaft ist, desto schwieriger wird es, die Mitglieder einer Gesellschaft zu kontrollieren und diese zur Einhaltung der Spielregeln zu zwingen. Es ist deshalb fundamental, dass die Mitglieder einer solchen Gesellschaft die Spielregeln möglichst freiwillig akzeptieren und einhalten. Dies geschieht umso eher, je mehr die Mitglieder in die Entscheidfindung eingebunden sind, je näher diese bei ihnen gefällt werden, je größer die Transparenz, Informations- und Meinungsfreiheit über Vor- und Nachteile dieser Spielregeln sind und je stärker die Solidarität zwischen Gewinnern und Verlierern und je größer die Möglichkeit zur föderalistisch unterschiedlichen Anwendung der Spielregeln ist. Es braucht zudem einen Grundkonsens, dass eine angemessene Transparenz darüber herrschen soll, wer sich an die Spielregeln hält und wer nicht, und dass gesellschaftlicher Druck auf alle Akteure ausgeübt werden soll, sich freiwillig an die Spielregeln zu halten. Dies gilt für traditionelle Gesellschaften genauso wie für die globale Internet-Community. Notwendig ist auch ein Konsens darüber, dass in gewissen Fällen, in denen die Spielregeln nicht eingehalten werden, eine von allen Mitgliedern der Community akzeptierte Ordnungsmacht in einem vorgegebenen Rahmen einschreiten können soll, wenn dies für das Funktionieren der Community notwendig ist. Und es braucht einen Konsens darüber, dass die Spielregeln permanent auf ihre Angemessenheit kritisch hinterfragt werden sollen. Je größer das Vertrauen in die demokratischen Strukturen ist, umso mehr fühlen sich die Individuen als Teil einer Gesellschaftsorganisation und tragen Sorge für diese. In Ländern mit niedriger Mitbestimmung und Transparenz und mit hoher Korruption sehen die Menschen oft nur zwei Möglichkeiten ihrer Beziehung zum Staat: Entweder der Staat nutzt sie aus oder sie nutzen den Staat aus. Sie fühlen sich aber nicht als Teil des Staates und haben wenig Anreiz, die durch den Staat gesetzten Spielregeln zu befolgen. Je größer die Identifikation mit den demokratischen Strukturen ist, desto eher ist man bereit, die dadurch zustande gekommenen Spielregeln freiwillig einzuhalten, und desto weniger Ressourcen müssen für Kontrollmaßnahmen aufgewendet werden.


B) Respekt gegenüber Würde und Freiheiten der Mitmenschen bedingt freiwilligen Verzicht auf individuelle Freiheiten

Die uneingeschränkte Ausübung von Menschenrechten, wie etwa der Meinungsfreiheit, kann negative Auswirkungen auf die Grundrechte, wie z.B. den Schutz der Privatsphäre, oder die Menschenwürde anderer haben. Bis zu einem gewissen Grad sind die Grenzen der individuellen Grundrechte in demokratischen Gesellschaften in deren Rechtssystem definiert. Wenn die Mitglieder einer Gesellschaft aber alles, was nicht explizit verboten ist, als erlaubt betrachten, wird die Gesellschaft – um zu verhindern, dass durch die rücksichtslose Ausübung von Freiheiten der einen die Freiheiten und Würde anderer zu stark kompromittiert werden – dazu gezwungen, möglichst für jeden Einzelfall per Gesetz eine Balance zwischen Freiheiten des einen und Schutz der anderen zu definieren. Aber auch eine Flut von Gesetzen kann diese Balance nie endgültig erreichen, sondern führt stattdessen zu einem unflexiblen und ineffizienten Regelwerk, und – wenn die Einhaltung dieses Regelwerks kontrolliert werden soll – auch noch zu einem Überwachungsstaat ohne Lebensqualität. In einer freiheitlichen Gesellschaft werden also moralische Normen benötigt, die subtiler und flexibler sind als gesetzliche Bestimmungen. Das Ausüben von Grundrechten bedingt das Bewusstsein der Individuen für mögliche Auswirkungen auf andere Mitglieder der Gesellschaft und die Bereitschaft des Einzelnen, freiwillig Verantwortung für sein Handeln zu über-nehmen. Es braucht einen freiwilligen Verzicht darauf, seine Freiheiten und Rechte immer bis zur Grenze des Erlaubten auszunutzen, insbesondere dann, wenn ein anderer unter der eigenen Freiheit mehr leidet, als man selbst von dieser profitiert. Dieser Verzicht kann nicht von oben verordnet werden, sondern muss von einem Bewusstsein für Verantwortung und Solidarität und von einem „gesunden Menschenverstand“ des Individuums geleistet werden. Was das im konkreten Fall heißt, muss von jedem einzelnen Individuum im Austausch mit seinen Mitmenschen ausgehandelt werden. Hierfür ist eine breite Bildung für alle Mitglieder einer Gemeinschaft genauso bedeutend wie eine offene und gleichberechtigte Kommunikation unter allen Mitgliedern. Es bedarf also eines permanenten Diskurses in einer Gesellschaft, wieweit Individuen ihre Freiheiten nutzen dürfen. Erforderlich scheint ein Bewusstsein dafür, dass alle Menschen grundsätzlich gleichwertig sind und dass man gegenüber – sowohl ökonomisch als auch politisch – Schwächeren darauf verzichten sollte, seine Stärke bis zum Äußersten auszuspielen. Genauso wie die direkte Demokratie verleiht das Internet den Individuen mehr Macht und Einfluss, gesellschaftliche Entscheide mitzuprägen, welche Auswirkungen sowohl auf das eigene als auch auf das Leben anderer haben können. Dies ist grundsätzlich erstrebenswert, bedingt jedoch, dass die Individuen willens und fähig sind, dies verantwortungs- und respektvoll zu tun.

Autoren
Lorena Jaume-Palasi
Lorena Jaume-Palasi
Sebastian Haselbeck
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