Editorial des Herausgebers Wolfgang Kleinwächter zu MIND 1
Editorial des Herausgebers Wolfgang Kleinwächter zu MIND 1
Editorial
Wolfgang Kleinwächter
Habemas MIND. Auf der Suche nach einer neuen Dialogform zu den politischen, wirtschaftlichen, soziokulturellen und rechtlichen Problemen des Internets haben wir ein Format gefunden, das versucht, die dezentrale Netzwerkarchitektur des Internets zu spiegeln.
Das Internet ist ein Netzwerk von Netzwerken. Alle folgen einem einheitlichen Protokoll, aber die eigentliche „Intelligenz“ des Netzes ist an seinen Enden angesiedelt. Und dort gibt es eine unendliche Vielfalt. Zwei Milliarden Menschen nutzen das Internet im Jahr 2011. Im Jahr 2015 soll nach dem Willen des UN-Weltgipfels zur Informationsgesellschaft (WSIS) die Hälfte der Menschheit online sein. Das scheint realistisch. Und es ist nicht utopisch davon auszugehen, dass im Jahr 2020 fünf bis sechs Milliarden Menschen jederzeit an jedem Ort mit jedermann in Text, Bild, Audio und Video über das Internet kommunizieren können.
Die endlose Vielfalt des Internets produziert einen ebenso endlosen Katalog von Fragen aller Art, die in das Leben, die Arbeit, das Lernen, die Freizeit und die sozialen Beziehungen jedes einzelnen Internetnutzers eingreifen. Die Mehrzahl dieser Fragen ist nicht neu. Mit ihnen schlägt sich die Menschheit seit Jahrhunderten herum: Meinungsäußerungsfreiheit, Schutz der Privatsphäre, Wissensvermittlung, Sicherung von materiellem und geistigem Eigentum, freier Handel und fairer Wettbewerb, Repräsentation und Partizipation bei politischen Entscheidungen. Das Internet hat diese Fragen nicht neu erfunden, es hat sie aber in einen neuen, weitaus komplexeren und vor allem globalen Kontext gestellt.
Als sich der UN-Weltgipfel zur Informationsgesellschaft im Jahr 2002 auf den Weg machte, darüber zu diskutieren, was denn das beste „Governance Modell“ für das Internet sei, wurde zunächst ein schier unüberbrückbarer Konflikt sichtbar: Die US-Regierung, unterstützt von der Privatwirtschaft, der technischen Community und weiten Teilen der Zivilgesellschaft, plädierte dafür, das Internet freizuhalten von einem staatlichen Kontroll-, Überwachungs- und Regulierungsmechanismus. Mit Hinweis auf die enorme Erfolgsgeschichte der historischen Entwicklung des Internets argumentierte man: „If it isn’t broken, don’t fix it.“ Auf der anderen Seite standen die Regierungen der Gruppe der 77 und der Volksrepublik China und ihren offenen Protokollen, Standards und Normen als „Rough Consensus“ bezeichnet: die grundsätzliche Akzeptanz all derjenigen, die von dem jeweiligen Problem betroffen oder an seinem Zustandekommen und seiner Lösung beteiligt sind. Das ist langwierig und kompliziert. Das ist aber auch spannend, stimuliert Innovation und Kreativität und führt zu nachhaltigen Lösungen.
Von dieser Philosophie hat sich das von Google Deutschland unterstützte „Internet & Gesellschaft Co:llaboratory“ leiten lassen, als es sich auf die Suche machte nach einem neuen Instrument, um zur Optimierung politischer Entscheidungen beizutragen. MIND steht für „Multistakeholder-Internet-Dialog“. Ausgehend von der Einsicht, dass es keine „absolute Wahrheit“ gibt, will MIND die verschiedenen Perspektiven der verschiedenen involvierten Stakeholder sichtbar machen und somit erhellen, wo es die Felder von grober Übereinstimmung gibt. In der Folgezeit wollen die Herausgeber von MIND zentrale Konfliktthemen der nationalen und internationalen Internetdebatte aufgreifen und sie einem „Multistakeholder-Stresstest“ unterwerfen.
Dass wir dabei mit dem Grundrecht auf Internetfreiheit beginnen, ist kein Zufall. Das Internet ist in erster Linie eine Technologie der Freiheit, ein befreiendes Medium. Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit konnten sich Individuen freier bewegen als im Internet, wo die Grenzen von Zeit und Raum verschwunden sind. Wie aber sind diese Freiheiten garantiert? Und wie verhält es sich mit der Verantwortung, die jeder Wahrnehmung von Freiheit inhärent ist? Wenn Individuen und Unternehmen Rechte, ihre universellen Menschenrechte einfordern, wie steht es dann um die Pflichten? Und wer muss wofür garantieren?
Auf diese Fragen gibt es, wie die Ihnen jetzt vorliegende Publikation zeigt, unterschiedliche Antworten, je nachdem, aus welcher Perspektive man sich dem Thema nähert. MIND ist aber nicht nur ein neues Präsentationstool, es ist ein Beteiligungsinstrument. Beteiligen Sie sich also an MIND, an diesem „Multistakeholder-Internet-Dialog“. Kommentieren Sie den Holznagel/Schumacher-Artikel und die acht Kommentatoren auf unserer Website. Erweitern Sie Ihre Sichtweise oder, wie es im Untertitel unserer neuen Publikation heißt: „Broadening Your Mind“ und lassen Sie andere daran teilhaben.