Gute Innovation? Böse Innovation?
Gute Innovation? Böse Innovation?
„Anything that is in the world when you’re born is normal and ordinary and is just a natural part of the way the world works. Anything that’s invented between when you’re fifteen and thirty-five is new and exciting and revolutionary and you can probably get a career in it. Anything invented after you’re thirty-five is against the natural order of things.“ Douglas Adams, The Salmon of Doubt: Hitchhiking the Galaxy One Last Time (2002)
Wie ein Unwetter brechen bedeutende Innovationen über die Menschen herein. Sie wälzen das Bestehende um. Egal ob Dampflok oder soziales Netzwerk – die schöpferische Zerstörung der großen Innovationen überrascht und erschreckt viele Zeitgenossen. Auch wenn technische Innovationen von Menschen gemacht werden und Menschen über ihre Verwendung entscheiden, so fühlen sich viele BürgerInnen zunächst von ihnen dennoch überrollt. Dieser Zustand hält in der Regel an, bis sie sich einen entsprechenden Umgang mit dem Neuen angeeignet und sich durch Beherrschung der Technik ihre Autonomie in diesem Bereich wieder gesichert haben. Im digitalen Ökosystem ist diese notwendige Anpassung ungleich schwerer, da Innovationen hier aufgrund von Netzwerkeffekten und offenen Systemen (siehe auch: Schaffen offene Netze Mehrwert?) deutlich schneller Verbreitung finden. So konnte das soziale Netzwerk Facebook nach nur acht Jahren jeden siebten Menschen der Erde zu seinem Nutzer zählen. Doch unterliegt dieser Anpassungsprozess keinem technologischen Determinismus: Vielmehr gestalten EntrepreneurInnen mit ihren Träumen, Wünschen und Handlungen in der Regel bewusst die Innovationen im digitalen Ökosystem. Und auch wenn – oder gerade weil – die Folgen ihres Handelns nicht immer absehbar sind, stellt sich die Frage nach dem verantwortungsbewussten Handeln des Entrepreneurs (entsprechend dem Bild des “ehrbaren Kaufmanns”, und siehe auch das Projekt der-ehrbare-kaufmann.de) und der ethischen Dimension seiner Innovationen.
Wie kann man digitale Innovationen bewerten?
„Dass es Unfug war, weiß man erst hinterher.“ Astrid Lindgren: Michel aus Lönneberga
Die Technikethik untersucht spätestens seit den 1970er Jahren die moralischen Folgen technischer Innovationen und damit die sittliche Verantwortung des Entrepreneurs. In der klassischen Innovationsbewertung ist – im aristotelesschen Sinne – die Unterscheidung zwischen der Herstellung und der Verwendung eines Produktes verbreitet. Im digitalen Ökosystem verschmelzen diese beiden Bereiche jedoch immer häufiger (sog. Beta-Kultur). Wozu ein Heimwerker einen Hammer faktisch verwendet, entzieht sich der Kenntnis des WerkzeugproduzentInnen. Die NutzerInnen des Kurznachrichtendienstes Twitter stellen ihre Tweets jedoch direkt auf der Plattform des Betreibers ein. Aufgrund der schieren Masse an Informationen können die BetreiberInnen zwar nicht von jeder Nachricht Kenntnis erlangen – im Einzelfall steht ihm diese Möglichkeit jedoch offen. Erwartet man von ihnen jedoch, dass sie moralisch nicht einwandfreie Nutzungen unterbindet, hat dies weitreichende negative Auswirkungen auf die Freiheitsrechte der AnwenderInnen. Die spätere Verwendung der Technik und die damit verbundenen Handlungsfolgen sind dennoch die wichtigsten Leitplanken für die moralische Bewertung einer digitalen Innovation. Bei der Bewertung von Innovationen lassen sich vier Kategorien von (unerwünschten) Handlungsfolgen unterscheiden, die wir mit Blick auf das digitale Ökosystem betrachten wollen. Bei rein digitalen Innovationen sind die Folgen für die natürliche Umwelt im Vergleich zu anderen Innovationsarten gering. Auch entstehen im digitalen Ökosystem naturgemäß selten Unfälle in klassischen technischen Anlagen, Rechenzentren gelten im Allgemeinen als beherrschbar. Aber durch die Integration digitaler Technik in Alltagsgegenstände kann die Verletzlichkeit zunehmen. Zudem können eben diese Innovationen in einem hohen Maß soziale und kulturelle Nebenfolgen haben. So ist mit dem Siegeszug der Wikipedia der Untergang klassischer Enzyklopädien verbunden, was eine veränderte Sicht auf Expertentum, Deutungshoheit und Recherchetechniken mit sich gebracht hat. Auch der absichtliche Missbrauch oder der fahrlässige Fehlgebrauch der Technik kann weitreichende Folgen haben. Identitätsdiebstähle durch Phishing-Attacken oder Veruntreuung von sensiblen Daten sind hierfür klassische Beispiele.
Was bedeutet dies für gute Regulierung?
„If you eliminate vulnerability you also eliminate positive change.“ Ben Scott
Wie sollte die Gesellschaft, wie sollten politische Entscheidungsträger mit diesen Risiken umgehen? Welche Auswirkungen haben diese Besonderheiten auf gute Regulierung und zu welchem Zeitpunkt kann Innovation überhaupt reguliert werden? Ex ante ist die moralische Bewertung von Innovationen eine Entscheidung unter Unsicherheitsbedingungen. statistische, quantitative Herangehensweisen an das Bewertungsproblem bieten sich mangels Datengrundlage jedoch in der Regel nicht an. Die verbleibende Möglichkeit ist die subjektive Einschätzung, die qualitative Analyse durch ExpertInnen. Einrichtungen wie das „Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse“ in Karlsruhe unterstützen politische Entscheidungsträger bei der Bewertung von Innovationen und helfen einzuschätzen, welche (kritischen) Auswirkungen diese auf die Gesellschaft haben könnten. Würde der Staat jedoch eine grundlegende Fürsorgepflicht zur obersten Maxime gesetzgeberischen Handelns erklären, würde dies schnell zu einer kategorischen Unterlassungspflicht für EntrepreneurInnen und der damit verbundenen Zementierung des Status quo führen. Denn ein technisches Handeln ohne Risiko ist unter realen Bedingungen ebenso wenig möglich wie das Leben in einer risikolosen Gesellschaft. Ex-post-Regulierung versucht, die Verletzlichkeit der Gesellschaft zu reduzieren, in dem sie „böse Innovationen“ verbietet. Innovationen präzise in die Kategorien Gut und Böse zu unterteilen und für sie spezifische Regulierungen zu erlassen, wird häufig jedoch nicht funktionieren. Mit der unterschiedlichen Nutzung einer Innovation ist im digitalen Ökosystem häufig auch eine unterschiedliche moralische Bewertung verbunden: Eine der fundamentalen Veränderungen ist der Verlust von Kontrolle gewesen, den das offene Informationssystem Internet mit sich gebracht hat. So ermöglicht beispielsweise das TOR-Projekt Dissidenten und AktivistInnen in repressiven Staaten mit Gleichgesinnten innerhalb und außerhalb ihres Landes zu kommunizieren. Gleichzeitig können die im Rahmen des Projekts angebotenen Anonymisierungstechniken aber auch gegen rechtsstaatliche Bemühungen eingesetzt werden, um zum Beispiel die Strafverfolgung zu behindern. Würde man die vom Projekt bereitgestellte Software wegen der negativen Auswirkungen verbieten, könnte sie ihre positive Wirkung im anderen Bereich nicht entfalten. Versucht man die Verletzlichkeit auf ein Minimum zu reduzieren, eliminiert man auch den durch Innovation herbeigeführten positiven Wandel.
Die perfekte Lösung für Regulierung von Innovation finden zu wollen, scheidet also aus. Gute Regulierung ist im digitalen Ökosystem keine perfekte Regulierung. Sie ist ein negativer Regelutilitarismus als Minimalmoral, sie hält Regeln bereit, wie mit negativen Auswüchsen von Innovation gesellschaftlich umgegangen wird. Sie versucht nicht das größte Glück für die größte Zahl von Menschen zu finden, sondern nur das kleinste Leid für die kleinste Zahl von Menschen. Dies führt zu Regulierungsergebnissen, mit denen man nicht immer zufrieden sein wird, sichert jedoch einen moralischen Mindeststandard. Gute Regulierung bewahrt die Gesellschaft vor klar absehbarem oder faktisch vorhandenem Übel, gibt EntrepreneurInnen aber genügend Raum, im Innovationsprozess auch Fehler zu machen. Denn nur wer die Freiheit hat, Fehler zu begehen, kann auch die Freiheit nutzen, bedeutende Innovationen zu schaffen.
„Just because new technology comes along, we shouldn't necessarily try to restrict that technology, because we don't understand it yet. If you restrict the bad actions on a technology, you can potentially restrict all the good actions that could come. There is a danger there.“ Jeff Jarvis