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Menschenrechte und Internet: Eine Ansage

Menschenrechte und Internet: Eine Ansage

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Matthias C. Kettemann Inhaltlicher Leiter der 5. Initiative

Der Buchdruck ermöglichte die Reformation, das Internet die Revolution. Die Revolution der Art, wie wir uns informieren und kommunizieren, denken und leben, einkaufen und verkaufen, hoffen, lieben und leiden. Als Johannes Gutenberg um 1450 den Druck mit beweglichen Lettern und die Druckerpresse erfand, konnte er nicht voraussehen, dass Luther 1517 in Wittenberg seine 95 Thesen anschlagen würde und dass sich diese mit Hilfe des Buchdrucks wie ein Lauffeuer durch Europa verbreiten würden. Auch Vint Cerf konnte nicht ahnen, als er 1973 zentrale Bestandteile der Internetprotokollfamilie entwickelte, was für ein kraftvolles Medium er damit ins Leben rief.

Neue Fragen, neue Antworten

Das Internet gibt nicht nur neue Antworten auf alte Fragen nach den Formen und der Substanz des Zusammenlebens; es stellt uns vielmehr vor neue Fragen. Angesichts von Jugendlichen, die Partyfotos online stellen, von Bundespräsidenten, die das Internet als Gefahr für die Menschenrechte sehen, und Diskussionen über Onlinesperren, virale Videos und niesende Pandas, geleakten Dokumenten und ACTA-Protesten möchte man mit Goethes Zauberlehrling manchmal rufen: „Nass und nässer / Wird’s im Saal und auf den Stufen / Welch entsetzliches Gewässer!“ Doch das Internet ist kein „entsetzliches Gewässer“, es ist ein tiefes. Netscape Navigator hieß ein früher Browser, Internet Explorer ein anderer. Das frühe Internet war eines der mutig Suchenden, Forschenden, Navigierenden. Das hat sich geändert. Die Internetuser von heute sind nicht mehr Eroberer neuer Welten, sie sind Digital Natives, das Internet ist ihnen zur Normalität geworden. Aber zugleich gibt es Milliarden Menschen, die noch nie einen Computer gesehen haben. In der Frühzeit des Internets hielten sich Staaten aus seiner Regulierung heraus. Sie hätten, so Internetvordenker John Perry Barlow in seiner Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace, kein „moralisches Recht“, den Internetraum zu regulieren.

Der Mensch im Mittelpunkt

John Perry Barlow irrte. Doch wer mit dem Zauberlehrling verzweifelt und ruft: „Herr, die Not ist groß! / Die ich rief, die Geister, / Werd’ ich nun nicht los”, der wird erwachen in einer überregulierten staatenzentrierten Welt. Das Internet und die Informationsgesellschaft sollen hingegen, und darauf einigte sich die internationale Gemeinschaft schon auf dem Weltgipfel der Informationsgesellschaft in Genf (2003) und Tunis (2005), den Menschen in den Mittelpunkt stellen. In der Verpflichtungserklärung von Tunis gaben die Staaten der Welt beredtes Zeugnis davon, wie die Informationsgesellschaft der Zukunft auszusehen hat: „Wir bekräftigen unseren Wunsch und unsere Entschlossenheit, eine den Menschen in den Mittelpunkt stellende, inklusive und entwicklungsorientierte Informationsgesellschaft aufzubauen, gestützt auf die Ziele und Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen, das Völkerrecht und den Multilateralismus sowie unter voller Achtung und Einhaltung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, damit die Menschen auf der ganzen Welt Informationen und Wissen schaffen, abrufen, nutzen und austauschen können, um ihr Potenzial voll zu entfalten und die international vereinbarten Entwicklungsziele, einschließlich der Millenniums-Entwicklungsziele, zu erreichen.“ (Quelle: Verpflichtungserklärung von Tunis, 2005) Diese Verpflichtung bildet den rechtlichen Rahmen der Informationsgesellschaft, sie verpflichtet Staaten und setzt ihrem Handeln rechtliche Grenzen. Den Rahmen aufzuzeigen, Verpflichtungen für Staaten – und andere Akteure – auszuformulieren und Grenzen zu ziehen, war auch das Ziel dieser Initiative, die sich der Rolle des Internets für den Schutz der Menschenrechte widmete, aber auch Momente der Gefährdung der Menschenrechte durch das Internet nicht ausblendete.

Menschenrechte und Internet. Kein Zurück

Wie es schon nach Luthers Thesenanschlag kein Zurück in den vorreformatorischen Zustand gab, gibt es auch jetzt kein Zurück in die Zeit vor dem Internet. Das Internet bleibt und wandelt sich. Menschliche Aktivitäten im Internet werden vielfältiger, gewinnen Konturen und Prägnanz, gewinnen aber auch an Auswirkungen. Menschenrechte müssen als Rahmen und Leitlinie der Informationsgesellschaft außer Streit stehen. Doch zuvor müssen wir über sie streiten dürfen. Auch das hat diese Initiative gezeigt – Streitkultur 2.0. Die zentralen Thesen der Initiative zeigen auf, was die großen Fragen der Gegenwart sind – und welche Antworten die Zukunft erfordert. Wir glauben, dass das Internet nicht alles neu macht, aber vieles besser. Klassische Menschenrechte lassen sich auf das Internet übertragen, wenn Gesetzgeber und Gerichte, Unternehmen, Zivilgesellschaft und Staaten in ihren jeweiligen Funktionen die bestehenden Menschenrechte respektieren, schützen und implementieren. Das Rad des Menschenrechtsschutzes muss nicht neu erfunden werden; es braucht nur bessere Stoßdämpfer. Denn eines ist klar: Das Internet dynamisiert die Kommunikation und Information, es schafft neue Diskursräume und durchbricht mediale Herrschaftsstrukturen. Das schmerzt traditionelle Herrscher – und das ist gut so. Das Internet kann so zu einem Brennglas zur Fokussierung menschenrechtlichen Empörungs- und Engagementpotenzials werden, das von traditionellen Medien nur unzureichend kanalisiert wird. Aber Menschenrechte sind mehr als nur die Uferbefestigung der Kommunikationsflüsse im Internet. Menschenrechte sind auch ethischer Maßstab und Fundament und rechtlicher Anker jeder internationalen (und nationalen) Ordnung. Daher können Internet-Governance-Entwürfe für die Zukunft, wie Internetverfassungen und globale, internetbasierte transnationale Republiken, nicht ohne menschenrechtlichen Anker auskommen.

Menschenrechte als Maßstab

Die Thesen der Initiative entfalten sich vor zwei großen Dynamiken, die das Internet und dessen Entwicklung in den nächsten Jahren prägen werden. Zunächst werden Menschenrechte im Internet zunehmend als Gegenstand öffentlichen Interesses wahrgenommen. Der Menschenrechtler Wolfgang Benedek nannte die Diskussion um ACTA eine „nützliche Hysterie“. Wir brauchen noch mehrere solche Hysterien, um die Bedeutung der Menschenrechte als Gestaltungsprinzip für das Internet der Zukunft in der öffentlichen Wahrnehmung zu verankern. Gleichzeitig müssen Diskussionen um ACTA, SOPA und PIPA auch in ihrer Relativität und Bedingtheit verstanden werden. Dies führt mich zur zweiten Dynamik, die vorderhand gegenläufig erscheint. Staaten werden weiterhin eine wichtige Rolle in der Definierung und Umsetzung von öffentlicher Internetpolitik spielen. Das ist gut so. Staaten dürfen von der Internetgemeinde nicht als Feinde begriffen werden, sondern als notwendige Rahmenregulatoren. Sie bieten Schutz bei Marktversagen in Selbstregulierungsszenarien und garantieren, so sie demokratisch verfasst sind, Rechtsstaatlichkeit auch im Internet. Gleichzeitig sind Staaten nicht die einzigen Akteure, die zählen. Das Bekenntnis der internationalen Gemeinschaft zur Multi-Stakeholder-Struktur der Internet Governance ist klar und unumstößlich. Beide Trends werden dazu führen, dass das Internet mehr Regeln unterworfen sein wird. Auch das ist zu begrüßen. Keine Komplexifizierung sozialen Verhaltens kam bisher ohne ein proportionales Anwachsen regulativer Mittel aus. Dass im Internet Selbstregulierung in vielen Bereichen beeindruckende Ergebnisse zeitigt und dass der Multi-Stakeholder-Ansatz zentral für die Gestaltung von Internet-Governance-Entwürfen der Zukunft ist, sind keine Widersprüche.

Plaza Pública mit Immunsystem

Frank La Rue, UNO-Sonderberichterstatter für Meinungsäußerungsfreiheit, hat in einem Interview für diese Initiative mit das Klügste gesagt, was zu Menschenrechten im Internet ausgeführt werden kann. „Was auch immer Staaten tun, um das Internet zu blockieren, zu filtern oder der Zensur zu unterwerfen, diese Versuche werden ins Leere laufen.“ Sie werden – sogar „unausweichlich“ ins Leere laufen, weil das Internet ein „kraftvolles Medium“ sei und die Technologie sich so schnell entwickle, dass Staaten einfach nicht nachkämen. Das Internet, so Frank La Rue, die große Plaza Pública unserer Generation, werde immer gegen staatliche Zensurversuche obsiegen. Aber wer siegt, wenn das Internet siegt? It’s not (only) the economy, stupid. Wenn das Internet siegt, dann siegen auch die Menschenrechte. Und siegen die Menschenrechte, dann siegen wir alle. Den Schlachtplan dazu finden Sie auf den folgenden Seiten.

Autor
Sherry Basta
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