Regulation als Reaktion auf den nationalstaatlichen Kontrollverlust
Regulation als Reaktion auf den nationalstaatlichen Kontrollverlust
Replik: Parlament und Regierung
Jimmy Schulz, Mitglied des Bundestages
Kernaussage
Das Internet ist noch immer das freieste Medium unserer Gesellschaft und es muss achtsam abgewogen werden an welchen Stellen wir überhaupt Regulierung benötigen. Eine vollständige staatliche Kontrolle des Informationsflusses berührt die Freiheitsgrundrechte der Bürger nämlich in ihrem Kern. Dieser Kern muss aber unangetastet bleiben.
Regulation als Reaktion auf den nationalstaatlichen Kontrollverlust
Der Text von Rolf H. Weber beschäftigt sich mit dem Thema, inwiefern Staaten in die Internetfreiheit eingreifen dürfen. Dabei wirft er die zentrale Frage auf, wo die Grenzen solcher – grundsätzlich zulässiger – Eingriffe liegen. Nach einer Einführung analysiert Weber überstaatliche und nationale Rechtsgrundlagen und stellt Gemeinsamkeiten fest, die er begrifflich an der sog. Wesensgehaltsgarantie in internationalen Konventionen und staatlichen Verfas-sungen verankert. Diese Wesensgehaltsgarantie schützt das Wesen von Grundrechten der Bürger und verhindert, dass diese durch staatliche Eingriffe bis zur Unkenntlichkeit „verun-staltet“ werden. Im Ergebnis sieht Weber so etwas wie Leitplanken für staatliche Einschrän-kungen, aber noch einen weiten Weg für die rechtliche Umsetzung in den einzelnen Staaten.
An Webers treffende Analyse der ausgewerteten Materialien möchte ich zwei Gedanken anknüpfen. Zum einen bietet es sich an, die Betrachtung über die Europäische Menschenrechts-konvention hinaus noch globaler zu fassen, zum anderen möchte ich als Liberaler bereits die Ausgangsfrage anders formulieren: An welchen Stellen benötigen wir überhaupt Regulierung bzw. wo ist der Gesetzgeber überhaupt gefragt?
Es ist richtig und wichtig, das Thema international zu betrachten, da nationale Gesetze für ein globales Netz oft sinnlos sind – internationale Vereinbarungen erscheinen deutlich nützlicher. Weber analysiert das Thema anhand der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), also einer rein europäischen Übereinkunft. In diesem Zusammenhang könnte von Interesse sein, den Menschenrechtschutz der Vereinten Nationen detailliert zu analysieren, da dieser tatsächlich globale Auswirkungen hat und teilweise, wie zum Beispiel der von Weber erwähnte „Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte“, rechtsbindend ist. Diese Fragen werden richtigerweise auf globaler Ebene besprochen, zum Beispiel beim Internet Governance Forum (IGF). Das Internet – also seine Infrastruktur, technischen Standards und Kooperationsprozesse – haben sich weitgehend ohne Bevormundung und staatliche Regulierung entwickelt. Es ist stark zu bezweifeln, dass sich das Internet ohne diese Freiheit so dynamisch entwickelt und unsere Gesellschaft auf diese Art und Weise revolutioniert hätte. Das Internet ist noch immer das freieste Medium unserer Gesellschaft. Information und Gedanken wie auch Ideen und Geschäfte konnten noch nie zuvor so schnell verbreitet werden – der Arabische Frühling wäre wahrscheinlich ohne Internet ganz anders ausgegangen. Jeder wird zum Sender, statt nur Empfänger und Konsument zu sein. Und nur wenn wir den Nutzern genug Freiheit lassen, kann das Internet weiterhin als schönste Form der Globalisierung weiter fortbestehen. Das ist der Grund für meine Neuformulierung der Hauptfrage des Artikels.
Als Netzpolitiker, Bürgerrechtler und Mitglied im Innenausschuss des Deutschen Bundestages spielen für mich Fragen, die Grundrechtseinschränkungen und deren Grenzen betreffen, eine besonders wichtige Rolle. Nicht nur Jugendliche testen im Netz ihre Grenzen, sondern auch Gesetzgeber. Ein gutes Beispiel hierfür ist die aktuelle Diskussion um die Vorratsdatenspeicherung. Die Digitalisierung hat dazu geführt, dass Menschen große Teile ihres Lebens online verbringen. Insgesamt steht ein Vielfaches mehr an Daten online wie offline „zur Verfügung“, und diese Daten sind leichter zugänglich. Aus der Sicht von Strafverfolgungsbehörden erscheint dies selbstverständlich besonders praktisch. Aber: Nicht alles, was Behörden im Netz möglich ist, ist auch verhält-nismäßig und damit erlaubt. Momentan wird die Bundesrepublik Deutschland von Brüssel aufgefordert, eine Richtlinie umzusetzen, die voraussichtlich im Juni gar nicht mehr in der aktuellen Form gelten wird. Parallel ist nämlich die EU-Kommission dabei, diese zu überarbeiten. Die Umsetzung hätte zur Folge, dass die Verbindungsdaten aller Bürger, also Telefonate, SMS und Bewegungen im Netz, für sechs Monate gespeichert werden müssten. Und das komplett anlasslos, also ohne Anfangsverdacht oder konkreten Hinweis auf Gefahr. Die Kommunikation aller Bürger würde also überwacht. Zu allem Überfluss würde diese flächendeckende Überwachung stattfinden, ohne dass es konkrete Beweise gibt, dass die Vorratsdatenspeicherung in puncto Sicherheit überhaupt Vorteile mit sich bringt. Aus meiner Sicht verstößt diese Richtlinie sehr deutlich gegen die – wie von Weber gezeigt – international verankerte Wesensgehaltsgarantie. Die vollständige staatliche Kontrolle des In-formationsflusses berührt die Freiheitsgrundrechte der Bürger nämlich in ihrem Kern. Dieser Kern muss aber unangetastet bleiben. Nichtsdestotrotz fordern CDU/CSU und SPD, diese EU-Richtlinie umzusetzen. Zwar besteht das politische Geschäft aus Kompromissen, hier aber wäre für mich eine Grenze überschritten.
Die Forderung von Politikern nach Maßnahmen wie der Vorratsdatenspeicherung oder auch Netzsperren zeigen das Bedürfnis einiger Politiker, Kontrolle über das Internet zu erlangen. Über die Gründe lässt sich nur spekulieren: Richtig ist jedenfalls, dass viele Bundestagsabgeordnete schon aus Altersgründen nicht mit dem Internet aufgewachsen sind. Das Internet wird von vielen Abgeordnete noch immer nur als ein Medium der Kommunikation betrachtet und nicht als der Ort, an dem sich eine digitale Gesellschaft entwickelt. Den Umgang mit neuen Medien – und ihre Kontrolle – hat die Mehrzahl meiner Kollegen mit der Einführung des Privatfernsehens erlernt. Es ist vor diesem Hintergrund für diese Generation sehr schwer zu akzeptieren, dass das Internet ein Medium ist, das seiner Art nach schon einen automatischen Kontrollverlust bedeutet.
Nichtsdestotrotz gibt es Bereiche im Netz, in denen sich Normen herausgebildet haben und wo die Kooperation zwischen den verschiedenen Akteuren sehr gut funktioniert – zum Beispiel bei der Bekämpfung der Verbreitung von Darstellungen von Kindesmissbrauch oder der Bekämpfung von Phishing-Sites. Nicht in allen Bereichen funktioniert dies genauso gut, und dies führt bei staatlichen Autoritäten zu einem gefühlten Kontrollverlust. Das Netz hat sich sehr schnell entwickelt und deswegen haben die Menschen in vielen Bereichen noch keine Verhaltensnormen entwickeln können. Ein gutes Beispiel ist der Bereich Datenschutz, in dem teilweise eine Veränderung im Verhältnis zur eigenen Privatsphäre stattfindet. Auch das Urheberrecht muss an die digitale Welt angepasst und gleichzeitig anpassungsfähig gemacht werden für die noch unbekannte Zukunft. Fehlen etablierte gesellschaftliche Normen, ist es schwierig, konkrete Gesetzgebung zu entwickeln, ohne der weiteren Entwicklung zu schaden. Manchmal ist dann ein grober rechtlicher Rahmen sinnvoller. Und jedenfalls benötigt das Netz einen gewissen Freiraum, damit wir diese revolutionäre Medium und all seine wunderbaren Chancen nicht zerstören.