Staatliches Handeln als Notwendigkeit und Herausforderung
Staatliches Handeln als Notwendigkeit und Herausforderung
Replik: Parlament und Regierung
Sabine Verheyen, Mitglied des Europäischen Parlaments
Kernaussage
Anhand von Beispielen kann gezeigt werden, wie sich der Gesetzgeber tagtäglich mit Problemstellungen auseinandersetzt, die es zuvor in dieser Form nicht gab, um der Aufgabe nachzukommen, das Zusammenleben, wo es notwendig ist, auch im Internet zu regulieren.
Staatliches Handeln als Notwendigkeit und Herausforderung
„Die Freiheit ist kein Geschenk, von dem man billig leben kann, sondern Chance und Verantwortung.“
Dieses Zitat des Alt-Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker beschreibt treffend den Kern des Freiheitsbegriffs, den ich diesem Artikel zugrunde legen möchte. Auch für das Internet gilt, dass die Freiheit keine Selbstverständlichkeit ist. Zwar soll sich der Nutzer vollkommen frei im Netz bewegen können, ohne dass staatliche oder private Einrichtungen diese Freiheit einschränken, jedoch gehen mit dieser Freiheit gewisse Pflichten einher, denn wer sich im Internet aufhält, muss dabei die Rechte anderer achten. Dies betrifft den Bereich der Privatsphäre, des Datenschutzes, des Urheberrechts, des Kinder- und Jugendschutzes und noch einige andere Bereiche. Dort, wo der Nutzer sich nicht an die zugrunde liegenden Regeln hält, muss der Staat – freilich im Rahmen des geltenden Rechts – eingreifen.
Freiheit ist also ein Privileg, das sowohl Rechte als auch Pflichten mit sich bringt. Als eine Bürgerin der Europäischen Union bin ich mir dessen bewusst und richte mein Handeln danach aus. Bewege ich mich innerhalb der Grenzen dieser Union, genieße ich die Freizügigkeiten, die sich aus meinen Rechten ergeben, und erkläre mich mit meinen damit verbundenen Pflichten einverstanden.
So steht es mir beispielsweise frei, mich online wie offline nach eigenem Gutdünken über einen Sachverhalt zu informieren. Dabei habe ich zum Beispiel im realen Leben das Recht, in eine Buchhandlung meiner Wahl zu gehen und mir jedes Buch zu kaufen, das ich kaufen möchte. Jedoch geht mit diesem Recht auch die Pflicht einher, für dieses Buch den ausgewiesenen Preis zu bezahlen, selbst dann, wenn ich diesen Preis für nicht angemessen halte. Werde ich hingegen bei dem Versuch überführt, das Buch zu entwenden, so kann der Eigentümer der Ware von seinem Recht Gebrauch machen, mich anzuzeigen.
An dieser Stelle schaltet sich der Staat ein. Denn damit der Inhaber der Buchhandlung zu seinem Recht kommen kann, muss ich mich nicht ihm gegenüber verantworten, sondern gegenüber dem Staat, der für die Einhaltung der Rechte zuständig ist. Jedoch muss sich der Staat dabei seinerseits ebenfalls an Rechte halten, welche die Ausübung seiner Gewalt gegenüber dem Bürger regeln und Willkür verhindern sollen.
Der Staat erfüllt also den Zweck, das Zusammenleben menschlicher Gesellschaften dort, wo es notwendig ist, zu regulieren. Hätte ich das Buch käuflich erworben, hätte der Staat auch nicht eingreifen müssen.
Am Beispiel der Buchhandlung zeigt sich, dass es in der realen Welt allgemeingültige Vereinbarungen gibt, die – sofern sich alle Beteiligten daran halten – ein friedliches Zusammenleben ermöglichen. Im Internet dagegen stehen wir in vielen Punkten noch am Anfang der „legislativen Evolution“. Hier muss sich der Gesetzgeber tagtäglich mit Problemstellungen auseinandersetzen, die es zuvor in dieser Form nicht gab. Bei dem Versuch, unsere traditionellen Vorstellungen von Recht und Ordnung auch auf die digitale Welt auszuweiten (zum Beispiel beim Datenschutz, bei der Privatsphäre oder beim Urheberrecht), müssen wir immer wieder erkennen, dass sich unsere Offline-Gesetzgebung nicht 1:1 auf das Internet übertragen lässt. Aus diesem Grund gibt es online bislang noch keine klaren Zuständigkeiten und Regelungen, die genau festlegen, in welchen Fällen der Staat eingreifen muss und wann er es im Gegenteil nicht darf.
Im Folgenden möchte ich anhand einiger Beispiele aus dem Online-Sektor aufzeigen, wie das Zusammenspiel zwischen Gesetzgeber und Bürger in der Praxis funktioniert. Im digitalen Zeitalter ist das Internet integraler Bestandteil unseres gesellschaftlichen Lebens geworden. Es ist kein rechtsfreier Raum, denn auch hier existieren bereits gesetzliche Schranken und Regelungen, die diese Schranken eingrenzen. Diese sogenannten „Schranken-Schranken“ stellen sicher, dass Grundrechte nur bis zu einem bestimmten Maße eingeschränkt werden dürfen. Aus diesem Grund trägt in Deutschland beispielsweise das Verhältnismäßigkeitsprinzip dafür Sorge, dass der Staat nicht übermäßig in die Grundrechte eingreift. Was das Internet betrifft, so steht der Gesetzgeber hier vor zahlreichen neuen Herausforderungen, die den Weg zu einer einheitlichen legislativen Regelung stark erschweren.
Der Schweizer Rechtswissenschaftler Rolf H. Weber äußert in seinem Aufsatz „Gibt es Grenzen für staatliche Beschränkungen der Internetfreiheit?“ die Sorge, dass die Freiheit im Internet durch nicht ausreichende Beschränkungen der Schranken gefährdet ist. Der Autor zitiert in diesem Zusammenhang den Mitbegründer der Electronic Frontier Foundation, John Perry Barlow. Dieser hat ein Manifest veröffentlicht, welches heutzutage auf zehntausenden Inter-netseiten verlinkt ist. In „A Declaration of the Independence of Cyberspace“[1] fordert Barlow ein sich selbst regierendes Internet. Diese Forderung dürfte entschieden zu weit gehen. Jedoch halte ich eine Miteinbeziehung der User für enorm wichtig, auch und gerade im Bereich der Onlinegesetzgebung. Deswegen freut es mich sehr, dass die Europäische Kommission im vergangenen Jahr, als es um den Umgang mit Kindesmissbrauch im Internet ging, Privatper-sonen und Stakeholder dazu aufgerufen hat, zu den entsprechenden Gesetzestexten Stellung zu nehmen. Im Europäischen Parlament finden darüber hinaus täglich öffentliche Anhörungen statt, bei denen Vertretern aus Wissenschaft, Forschung und Privatwirtschaft die Möglichkeit gegeben wird, auf den politischen Entscheidungsprozess Einfluss zu nehmen.
Um diese Art von demokratischer Teilhabe überhaupt zu ermöglichen, ist es unverzichtbar, dass die Bevölkerung von ihrem Recht Gebrauch machen kann, sich im Internet frei zu informieren. Weber zeigt in seinem Aufsatz am Beispiel China, wie es nicht sein sollte, und dass Vorzensurmaßnahmen die (Internet ) Freiheit maßgeblich einschränken und damit klar zu verurteilen sind. In Artikel 5 unseres Grundgesetzes haben die Verfassungsväter dies mit dem Satz "Eine Zensur findet nicht statt."[2] ausgeschlossen. Jedoch reichen diese fünf Wörter bei Weitem nicht aus, um das gesamte Feld der Meinungsfreiheit erschöpfend zu regeln. So ist in Deutschland beispielsweise die Verherrlichung der NS-Kriegsverbrechen oder die Leugnung des Holocaust gesetzlich verboten. In den USA hingegen ist dies nicht der Fall, hier fallen solche Ansichten unter den Schutz der Meinungsfreiheit. Wenn nun Material, in dem die NS-Kriegsverbrechen verherrlicht werden, im Internet publiziert wird, können die Verantwortlichen hierfür nicht strafrechtlich belangt werden, wenn sich der entsprechende Ursprungsserver in den USA befindet.
Ein anderes Beispiel sind Bilder und Videos mit Darstellungen von Kindesmissbrauch im Internet: Als verantwortliche Abgeordnete der EVP-Fraktion zu diesem Thema im Kulturausschuss des Europäischen Parlaments habe ich mich hier für ein sofortiges Löschen des entsprechenden Materials eingesetzt. Dies ist jedoch nicht immer leicht umzusetzen, zum Beispiel wenn sich der betreffende Server außerhalb der EU befindet. In den Verhandlungen zum Rahmenbeschluss zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern habe ich deswegen einen wesentlich intensiveren Austausch der internationalen Strafverfolgungsbehörden gefordert. An diesem Punkt zeigt sich, wie der Gesetzgeber eine Schranke schafft, welche die Freiheit im Internet eingrenzt, wenn es um illegale Inhalte geht. In der Debatte über den Umgang mit solchen Inhalten wurden von verschiedenen Seiten auch die sogenannten netzseitigen Internetsperren als Maßnahme vorgeschlagen. Hier war es mir wiederum ein Anliegen, eine Schranke für die Schranke zu schaffen: Das Sperren von Internetseiten ist keine nachhaltige Lösung. Sie sind leicht zu umgehen, und das Material bleibt weiterhin im Netz. Deswegen war es wichtig, sicherzustel-len, dass Sperren nur als Ultima Ratio in ganz bestimmten Fällen eingesetzt werden dürfen.
Ein weiterer von Rolf H. Weber angesprochener Punkt ist die Rolle der Service Provider im Netz. Hier ist dem Autor durchaus beizupflichten: Ein privates Unternehmen darf die Freiheitsausübung nicht „ungebührlich einschränken“ und Zensurmaßnahmen einleiten, die den Zugang des Nutzers zum Internet beschränken. Privatunternehmen können zwar seitens des Staates durchaus aufgefordert werden, in dringenden Verdachtsfällen bestimmte Informationen weiterzugeben, dabei bleibt es jedoch Aufgabe des Staates, seiner Schutzpflicht nachzukommen. Allerdings muss die Rechtssetzung offen für die zahlreichen neuen technischen Entwicklungen im Bereich des Internets sein, und es muss dafür Sorge getragen werden, dass der Rechtsrahmen dafür gegebenenfalls erweitert werden kann.
Deswegen ist es in diesem Zusammenhang besonders wichtig, dass jegliche Maßnahmen zur Regulierung des Internets die Erfordernisse der Technologieneutralität erfüllen. Viviane Reding, die Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, hat sich in einer Rede in München am 22. Januar dieses Jahres dazu wie folgt geäußert:
„We can only imagine how technology will change our lives tomorrow. The details we do not know yet. That is why the new regulatory environment has to be future-proof, be technology-neutral.“[3]
Hierin stimme ich mit Kommissarin Reding völlig überein. Wir als Gesetzgeber müssen uns auch in Zukunft auf eine sich schnell wandelnde Internetlandschaft einstellen. Es ist deswegen notwendig, dass wir auch die Gesetze regelmäßig dieser permanenten Entwicklung anpassen. Dabei ist gerade im Online-Sektor ein hohes Maß an Flexibilität notwendig. Das Internet ist eine der bedeutendsten Erfindungen des 20. Jahrhunderts. Es ist ein Kommunikationsmittel und ein Kulturgut, das aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken ist. Wir müssen jedoch Sorge tragen, dass auch hier die Rechte der Menschen gewahrt bleiben. Deswegen müssen wir zum Beispiel auf den Umgang mit geistigem Eigentum genau so achten wie auf die seelische Unversehrtheit unserer Kinder. Wir müssen den Schutz privater Daten gewährleisten und Jugendlichen den verantwortungsvollen Umgang mit sozialen Netzwerken nahebringen. Wir brauchen gute Konzepte für den Handel mit Filmen, Büchern und Musik im Netz und müssen dabei darauf achten, dass die User den Wert digitaler Daten ebenso zu schätzen lernen wie die gebundene Enzyklopädie aus dem Buchhandel.
Zu guter Letzt können wir aus dem Artikel von Rolf H. Weber eine wichtige Lehre ziehen: Genau so, wie jeder Staat Regelungen, Gesetze und Richtlinien benötigt, so braucht er auch klare Schranken, die diese Regelungen zum Schutz der Freiheit eingrenzen. Denn nur durch verantwortungsvollen Umgang seitens der Bürger, aber auch seitens der Regierungen, kann das Privileg der Freiheit von allen Beteiligten als Chance genutzt werden.