Verrechtlichung des Politischen - Politisierung des Rechtlichen
Verrechtlichung des Politischen - Politisierung des Rechtlichen
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesministerium der Justiz, BRD
Nach einem kurzen Diskurs über die historischen Ursprünge der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vollversammlung der Vereinten Nationen am 18.12.1948 kommt Julian Nida-Rümelin zu dem Schluss, dass aufgrund der universalen Verbindlichkeit der Menschenrechte über Grenzen der Kultur, Religion und Tradition hinweg „Humanismus zur globalen Leitkultur geworden [ist]“. Niemand würde dieser Aussage lieber zustimmen als ich, aber in meinem Austausch mit verschiedenen Regionen dieser Welt erscheint mir dieses „mission accomplished“ doch etwas verfrüht. Die Debatte beispielsweise um die „asiatischen Werte“ scheint mir eher das Gegenteil zu zeigen. Und selbst innerhalb des oft als monolithisch wahrgenommenen Westens kennen wir Unterschiede z.B. in der Einschätzung der Todesstrafe oder der Zulässigkeit von Folter. Der für die hier zu führende Diskussion spannendere Teil des Aufsatzes ist die Herleitung des Zugangs zum Internet als Menschenrecht, welches Nida-Rümelin aus Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ableitet. Dabei wird allerdings der logische Schritt von „Bildung“ hin zu „Teilhabe an Kommunikation“ als Menschenrecht nicht klar ersichtlich. Dies als Grundlage seines weiteren Argumentes, „Teilhabe an Kommunikation […] [sei] ein Menschenrecht“, sollte hinterfragt werden.
ZUGANG ZUM INTERNET ALS UNVERÄUSSERLICHES MENSCHENRECHT?
Nida-Rümelin führt aus, dass das Recht auf Zugang zum Internet mit der Verbreitung des Mediums zusammenhängt. Je mehr Menschen online sind, desto eher wird der Zugang zu einem unveräußerlichen Menschenrecht. Dies beinhaltet seiner Meinung nach auch eine „staatliche[…] Pflicht […], diesen Zugang zu sichern.“ Für eine Auseinandersetzung mit dieser These bieten sich die Freiheitsrechte des deutschen Grundgesetzes aufgrund ihrer normativen Kraft als Bezugspunkt weiterer Überlegungen an. Als verfassungsrechtliches Argument muss sich die Ansicht vor dem Hintergrund der Funktion der Grund- und Menschenrechte messen lassen. Nach dem Grundgesetz, aber auch in vielen anderen Verfassungstexten, sind die Grundrechte in erster Linie staatsgerichtete Abwehrrechte. Sie sichern einen Raum privater Autonomie gegenüber dem Staat. Freilich kennen die Grund- und Menschenrechtskataloge heutzutage auch weitere Grundrechtsfunktionen. Doch allzu leichtfertig tendieren Akteure des politischen Diskurses dazu, diese oder jene staatliche Leistung einem Grund- oder Menschenrecht zuzuordnen. Im politischen Diskurs soll damit das eigene Argument an der Autorität der Verfassung partizipieren. Das Argument suggeriert damit eine verfassungsrechtliche Notwendigkeit und Richtigkeit. Doch damit geht eine Vermengung von Rechtlichem und Politischem einher, die natürlich nicht an den Grenzen dieser These Halt macht. Mit dem (Totschlag-)Argument der verfassungsrechtlich notwendigen Leistung wird zwangsläufig der in einer Demokratie essenzielle Widerstreit der sachlichen Argumente im politischen und gesellschaftlichen Raum eher begrenzt als befördert. Die Grundrechtsinterpretation über die Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte hinaus mündet damit in einer irreversiblen Einengung des politischen Raumes. Das Politische wird damit rechtlich. Und im gleichen Atemzug das Recht politisch. Diese grundlegenden Ausführungen dürfen nicht als eine Aussage zu der Notwendigkeit des Zugangs aller Bürge-rinnen und Bürger zum Internet – als politisches Argument – missverstanden werden. Die Diskussion, inwieweit der Zugang zu Kommunikationsmitteln wie dem Internet konstitutiv für die Persönlichkeitsentfaltung und auch für unsere Gesellschaft ist, muss im Informationszeitalter dringend geführt werden. Doch ist in einer Demokratie diese Frage eine politische. Auch soll damit nicht gesagt sein, dass sich die Frage des Internets einer verfassungsrechtlichen oder gerichtlichen Betrachtung komplett entzieht. Sowohl im Bereich staatlicher Eingriffe in die digitale Kommunikation als auch beim Ausgleich grundrechtlicher Positionen zwischen Privaten liegen noch große verfassungsrechtliche Herausforderungen.
GERICHTE SIND WEITER, ALS MAN DENKT
Das Bundesverfassungsgericht ist in dieser digitalen Realität bereits angekommen. So hat das Gericht in seiner Entscheidung zur „Onlinedurchsuchung“ im Jahr 2008, in logischer Fortführung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, das bisher noch etwas übersehene „Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“ geschaffen. Dieses „Computergrundrecht“ ist eine juridische Revolution. Mit seinem Urteil hat das Gericht anerkannt, dass ein Computer heutzutage mehr ist als ein Arbeitsinstrument. Der Computer, das Smartphone, das Tablet und in der Zukunft intelligente Kühlschränke und Fernseher werden mit zunehmender Computerisierung unseres Lebens immer mehr Teil der Privat- oder Intimsphäre. Wir speichern auf Computern Fotos, kommunizieren mit Familienmitgliedern, Pfarrern und Ärzten. Wir greifen auf Bankkonten zu und verfassen Tagebücher. Damit sind die Daten auf unseren Computern besonders schützenswert! Die Entscheidung des Gerichts wird auf die Lebenswirklichkeit unserer Kinder und Enkelkinder, die schon jetzt komplett digital aufwachsen, eine für meine Generation noch nicht abzusehende Auswirkung haben. Dies gilt nicht nur gegenüber dem Staat, der zur Überwachung privater Computer, Smartphones und Handhelds hohe rechtliche Hürden überspringen muss. Es bedeutet auch, dass Unternehmen, bevor sie mit Cookies und Apps auf Daten der Geräte zugreifen, den Nutzer umfassend darüber informieren und dessen Einverständnis abfragen müssen. Ferner stellt der gerechte Ausgleich zwischen der freien Meinungsäußerung auf der einen und dem Schutz der Persönlichkeitsrechte und der Ehre auf der anderen Seite eine Herausforderung dar, der sich eine freiheitliche Gesellschaft im Internetzeitalter stellen muss. Dieses Spannungsfeld spricht der Autor mit den Schlagworten Beleidigung und Cybermobbing an. Die Kommunikationstechnologie ändert nichts an dem normativen Gehalt der Gesetze. Selbstverständlich gelten diese auch im World Wide Web. Allerdings bin ich mit meiner Zustimmung zu Nida-Rümelins Aussagen über die Umgangsformen im Netz etwas zögerlicher.
KULTURELLE REGRESSION ODER NEUE FORM DER KOMMUNIKATION?
Ich kann ihm beipflichten, wenn er schreibt, dass das Internet der freien, offenen und hierarchiefreien Kommunikation dienlich ist, in Demokratien zur Stärkung der Zivilgesellschaft führt und eine Gefahr für repressive totalitäre Systeme darstellt. Die Gefahr der „Inhumanität des Umgangs miteinander [und der] Ausgrenzung Andersdenkender[,] [die] die kulturellen Grundlagen der Demokratie zerstören“, wie Nida-Rümelin sagt, erscheint mir doch ein wenig verfrüht. Ist es nicht vielmehr so, dass Änderungen in gesellschaftlichen Hierarchien und Strukturen immer auch zu Änderungen im Kommunikationsverhalten und in den Umgangsformen führen? Zum Ende des Absolutismus, mit dem eine Stärkung der Rolle des Bürgers einherging, wurden gewisse althergebrachte Ehrerbietungen gegenüber dem früheren Lehnsherren oder Herrscher verändert und ins bestenfalls Symbolische verschoben. Menschen meiner Generation erinnern sich noch an die Veränderungen im Umgang mit Frauen, nachdem diese als gleichwertiger Teil der Gesellschaft anerkennt wurden und nicht mehr „Fräulein“, „Mädchen“ oder „Püppchen“ genannt werden konnten, ohne gesellschaftliche Kritik auszulösen. Ähnlich ist es mit der durch die 68er eingeleiteten Entwicklung, das demonstrative „Du“ salonfähig zu machen, das heute in jedem Berliner Restaurant zum Standard gehört. Wenn das Internet aber der hierarchie- und barrierefreie Raum ist, für den es von vielen gehalten wird, dann muss dies notwendigerweise eine Auswirkung auf die Umgangsformen haben. Die Anonymität hat neben vielen Vorteilen auch den Nachteil der gesenkten sozialen Beißhemmung. Die direkte und schnelle Kommunikation führt oft zu fehlender Reflexion über das Geschriebene. Und die stärkere Öffentlichkeit von Kommunikation verstärkt die Emotionalität beim Empfänger und im politischen Diskurs die Skandalisierung jeder Äußerung. Meiner Meinung nach ist die Zeit der kommunikativen Anarchie im Internet bereits vorbei. Eine immer stärkere Betonung von sogenannter Netiquette und ein entspannterer Umgang mit informellen Anreden auf Twitter oder in ultrakurzen E-Mails, die auf der Minitastatur eines Smartphones getippt wurden, sind zwei Arten, wie die Gesellschaft diesen Veränderungen begegnet. Eine gleichermaßen kollektiv-normative Erschütterung über den vermeintlichen Untergang guter alter Umgangsformen ist vielleicht das Problem meiner Generation, die noch andere Umgangsformen gewohnt ist. Diese scheinen allerdings nur auf den ersten Blick höflicher, gelegentlich waren sie repressiver und heuchlerischer als heute.
FASTFOODISIERUNG, WIKIPEDIASIERUNG UND YOUTUBEISIERUNG DER GESELLSCHAFT
Das Internet wird oft als utopischer Heilsbringer des gesamten Wissens der Menschheit betrachtet. Hier warne ich vor zu großer Euphorie. Die aktuelle globale „Lingua Franca“ ist Englisch und die dominierende Kultur ist durch Hollywood und Co. die amerikanische. Nur die Hälfte aller UN-Mitgliedsstaaten hat jemals einen Spielfilm produziert und die große Mehrzahl der Informationsplattformen im Netz stammt aus westlichen Staaten. Dies allein lässt die Angst in vielen Gegenden der Welt vor einer gewissen kulturellen Hegemonialisierung und geistigen Monokultur nicht zu Unrecht erwachen. Darüber hinaus wird gelegentlich vergessen, dass das Internet wie jedes Werkzeug und jede technische Innovation einer Unterrichtung der Nutzer bedarf. Ein netzpolitischer Aufklärungsunterricht, in dem über Chancen und Gefahren des Internets gesprochen wird, erscheint mir in den Schulen der Zukunft geboten. Nur ein aufgeklärter und kritischer Nutzer ist ein wahrhaft mündiger Bürger. Außerdem frage ich mich bei den anhaltenden Freudensprüngen über die politische Mobilisierung der (vor allem jungen) Bürgerinnen und Bürger durch das Internet gelegentlich, ob es sich dabei nicht um eine Fastfoodisierung des politischen Engagements handelt. McDonalds anstatt Boeuf Bourguignon.
Es ist leicht, irgendwo „Like“ zu klicken und mit einem Tastendruck eine Massenmail an hunderte Politiker zu schicken. Aber sich im Geiste bürgerlicher Teilhabe gegen Ungerechtigkeit bei Wind und Wetter auf der Hauptstraße der Stadt mit seinem Gesicht und seiner kostbaren Zeit zu zeigen, ist in meinen Augen die größere und wertvollere demokratische Leistung. Das Internet ist ein einzigartiges und innovatives Werkzeug zur Gestaltung sozialer Kontakte, zur politischen Teilhabe, zur wirtschaftlichen, künstlerischen und wissenschaftlichen Betätigung. Es stellt aber unsere normativen oder grundrechtlichen Überzeugungen nicht über Nacht auf den Kopf.