Die Zukunft des Lernens - global vernetzt immer und überall
Die Zukunft des Lernens - global vernetzt immer und überall
Zukunftsszenarien „Lernen 2023“ rund um den Globus
Tina Deiml-Seibt, Julia Leihener, Bastian Hamann, David Röthler
Ein Hochgefühl strömte durch Liya wie eine Welle kurzen Glücks. In zwei Tagen würde sie 16 werden. Ali, der Junge aus dem Nachbardorf, schien ihre Gefühle zu erwidern, und wenn sie die Andeutungen ihrer Brüder richtig verstanden hatte, waren ihre Eltern einer Hochzeit nicht abgeneigt. Ali hatte Träume, das wusste sie. Er wollte in die Stadt ziehen und studieren. Er war ein moderner junger Mann. Die ganze Welt schien plötzlich offen vor ihr zu liegen.
Wie ein Stachel bohrte sich aufkommendes schlechtes Gewissen in den Luftballon voller schöner Tagträume. Ihre Eltern würden es schwer haben ohne sie. Sie waren eine kleine Familie und Liya half täglich im Haus und auf dem Feld. Erst seit fünf Jahren besuchte sie die Schule, und über Mode, Informatik oder andere Themen, die sie interessierten, sprach sie nur mit ihren Freundinnen und Geschwistern. Ihre Eltern würden es nicht gutheißen, wenn sie plötzlich die Freiheiten der Stadt nutzen würde. Es war leicht, vom rechtmäßigen Leben abzukommen, oberflächliche neumodische Werte bestimmten dort den Alltag der Leute. Liya wollte ihren Eltern auf keinen Fall Schande bereiten. Sie liebte sie über alles. Insgeheim fühlte sie aber Widersprüche zu der Person, die sie in der Öffentlichkeit darstellte. Sie würde gern an die Universität gehen, etwas lernen, etwas von der Welt sehen. Und mit Ali verband sie die Hoffnung darauf, dass ein Teil dieser Träume wahr werden würde.
Liya hatte zu ihrem vorletzten Geburtstag ein Handy bekommen, was sie überglücklich gemacht hatte. Zu Hause gab es einen PC, und einmal in der Woche durfte Lia im Beisein ihrer Eltern an dem Rechner einer Predigt und einer pakistanischen Spielshow folgen. Vor einem Monat aber war etwas ganz Außergewöhnliches geschehen, das ihr Leben verändert hatte. Eine Gruppe von Ausländern hatte im Rahmen der Initiative „One HMD (Head Mounted Display) per Child“ an alle Schulkinder kleine Brillen verteilt, die eigentlich tragbare Computer mit Internetzugang waren. Anfangs wurden sie sehr misstrauisch beäugt, aber mittlerweile borgten selbst ihre Eltern die Geräte von Zeit zu Zeit bei der Schule aus. In der Landessprache vermittelten sie, gesprochen oder auf dem Display eingeblendet, Wissenswertes über Plätze, Denkmäler und Legenden der Region. Liya interessierte sich sehr für die alte und stolze Geschichte ihres Landes und sie ergänzte oft mit ihrem eigenen Wissen, was ihre Brille noch nicht kannte. Über soziale Netzwerke konnte sie nun auch Mädchen aus anderen Städten und Ländern kennenlernen und sie auf ihre Reisen mitnehmen. So hatte sie jetzt eine gute Freundin in Malaysia und in Katar, die ihr ihre Heimatregionen auf die gleiche Art und Weise zeigten. Sie lernte einige neue Wörter und die anderen, wenn auch ähnlichen Sitten, die dort herrschten. Die Datenbrillen wurden in der Schule aufbewahrt und bei gemeinsamen Wanderungen ausgegeben.
Liya war fasziniert von diesen Wundergeräten, die ihr ein Tor zur Welt auftaten. Sie hatte sich immer für Computer interessiert und tat es nun noch mehr. Von ihren älteren Brüdern hatte sie gehört, dass die Datenbrillen eigentlich noch viel mehr konnten, aber dass das Internet in ihrem Land stark reglementiert wurde. Es gab jedoch immer wieder Gerüchte um Geräte, die über Satelliten am Himmel den Zugang zum freien Internet ermöglichten.
Karla ist eine engagierte Dozentin an mehreren Hochschulen im Norden Deutschlands. Schon seit Jahren leisten diese sich kein festangestelltes Personal mehr für die Standardlehre – nur ein paar dekorierte Forschungsprofessuren mit geringem Lehrdeputat, um ihr Ranking im Exzellenzwettbewerb zu stabilisieren. Vorlesungen und Übungsmaterial gibt es seit Jahren online. Neue Seminarthemen und Coachingverfahren werden in immer kürzeren Abständen in kleinen interdisziplinären Teams entwickelt und algorithmisch implementiert. Dieses Verfahren hat sich bewährt, um die permanente Fortentwicklung im Kompetenzerwerb abzubilden. Lehrende wie Karla arbeiten als menschliches Bindeglied zwischen dem technologisch aufbereiteten Lehrstoff und den Interaktionen, Unzulänglichkeiten und Bedürfnissen ihrer Studierenden. Für mehrere Hundert von ihnen ist sie quasi ein persönlicher Coach. Die Systeme liefern ihr Datenkörper zu den einzelnen Studierenden, die über Aktivitäten aus den Lernumgebungen, ständig sich fortschreibenden E-Portfolios und anderen freiwillig eingecheckten Aktionen bestehen. Nicht formales Lernen aus außeruniversitären Aktivitäten wird meist in Form von Badges gesammelt und ergänzt so das Lerntagebuch bzw. E-Portfolio.
Seit einigen Jahren bauen Hochschulen und Schulen auf das BYOD (Bring your own Device)-Prinzip, um die technologische Ausstattung an den Institutionen zu gewährleisten. Jeder hat heutzutage einen persönlichen Assistenten – falls man sich keinen leisten kann, übernimmt die Anschaffungskosten das Sozialamt.
Die Umgebung ist inzwischen weitgehend mit Sensoren versehen, die sich mit den persönlichen Assistenten austauschen. Dieser elektronische Assistent vereinigt alle anderen Geräte, wie Tablets, Healthcare Devices, Smartphones und Datenbrillen. Er hat Zugriff auf viele Sinnesdaten und kann darüber Informationen einspielen und aufnehmen.
Dadurch lassen sich Gespräche, atmosphärische Gegebenheiten und physische Daten algorithmisch auswerten. Das Generieren von Einsichten aus diesen vielfältigen Daten wird heute oftmals der Rechenleistung von Computernetzwerken überlassen, nur die Verifizierung liegt noch in den Händen der Menschen. Durch diese Verbindungsmöglichkeiten lassen sich ganz persönliche Lernwege beschreiten und auch die Studiendauer ist somit weitgehend individualisiert. Damit Karla hilfreich in diesen Prozess eingreifen kann, bedarf es weiterer technologischer Hilfen, um die Daten nachvollziehbar bzw. erlebbar und damit bewertbar zu machen. Simulationen, die zur Lernanalyse angewandt werden, basieren auf Visualisierungen, wenn es sich um noch nicht vollständig kartierte neuronale Prozesse handelt. Noch im experimentellen Status befinden sich Systeme, die durch die Aktivierung neuronaler Karten steuernd in den Lernprozess eingreifen.
Erst kürzlich schickte ihr Vikram, ein Alumnus aus Bangalore, seinen Erkenntnis-feed und bat sie um Rat bei seinen nächsten beruflichen Schritten. Karla freute sich, nach so vielen Jahren wieder von Vikram zu hören, und so verabredeten sie sich gleich in einem holografischen Chat, dessen Designvorlage die Bücherei der damaligen Universität imitiert. Sie empfahl ihm, seine Programmierkenntnisse in Projekte der Open Global University einzubringen und damit zur Öffnung des Wissens beizutragen. Nach entspannter Plauderei kehrte sie wieder zu ihren Alltagsgedanken zurück. Diese kreisen momentan verstärkt um ihren zehnjährigen Sohn Ben, der derzeit bei seinem Vater in Kalifornien lebt.
Ben hatte schon im Kindergarten mit gestengesteuertem Spielzeug gespielt und in virtuellen Räumen mit Kindern aus einem Partnerkindergarten in Shanghai gemeinsam an Pirateninseln, Schlössern und Städten gebaut. Jeden Tag gingen die Kinder im Projektionsraum auf eine Reise in andere Länder, die Tiefen der Meere oder den Weltraum. Seit seiner frühesten Kindheit sammelt eine KI (künstliche Intelligenz) die Daten sämtlicher Devices, mit denen Ben interagiert, und entwickelt daraus Vorschläge, um sein Lernen zu erleichtern und zu verbessern. So wird Bens Lernweg schon von Anfang an in einem lückenlosen Datenkörper gesammelt. Im ersten Schuljahr stimmte er zu, dass seine Lehrer und Eltern informiert und mit relevanten Daten versorgt werden, wenn er weint oder Angst hat. Im zweiten Schuljahr widersprachen die ersten Kinder bereits der kompletten Nutzung der Daten für Analysen durch die Schule und die Eltern. Ben hat sich vor Kurzem nach einem Gespräch mit den Eltern auch so entschieden; nur gesundheitlich relevante Daten werden gesetzmäßig an die Schule und die Eltern übermittelt. Die Schule ist bestens ausgestattet und kann auf hervorragende Sensoren und Algorithmen zurückgreifen, was personalisierte Ernährungs- und Bewegungsprogramme für die Kinder ermöglicht. Neben gesundheitlichen Aspekten dürfen mit Zustimmung von Ben und den Eltern überdies auch Motivation und Lernverhalten analysiert werden. Auch wenn die restlichen Daten niemandem zugänglich sind, sammelt dennoch eine Identitätsverwaltungssoftware weiterhin alle anfallenden Daten für Ben in einem kryptologisch abgesicherten Safe, den vollen Zugang dazu wird er mit Erreichen der Volljährigkeit erhalten. Die Eltern erwarten, dass bis dahin fortgeschrittene Algorithmen zur Karriereberatung existieren, die aus den über Jahre hinweg aufgezeichneten Video- und Körperdaten psychologische Profile erstellen und diese mit den Anforderungsprofilen globaler ökonomischer und wissenschaftlicher Trends abgleichen.
Als Anhänger der um 2010 entstandenen Bewegung des „Quantified Self“ messen die Eltern Bens Aktivitäten auch außerhalb der Schule. Dadurch können sie, wie er selbst, Rückschlüsse über seine Entwicklung ziehen. Auswertbar ist beispielsweise die Zeitdauer, die er in holografischen Treffen mit Gleichgesinnten verbracht hat. Sprachanalyse erlaubt eine qualitative Auswertung. Bei den holografischen Zusammenkünften interessiert sich Ben für aktuelle Gadgets wie Mikrodrohnen und Roboter und deren Gestaltung mit 3-D-Druckern. Ben hat schon eine ansehnliche Sammlung von Mikrodrohnen, die er gemeinsam mit Freundinnen und Freunden in aller Welt gestaltet hat. Damit erkundet er nicht nur die eigene Nachbarschaft, sondern – aufgrund der Fernsteuerbarkeit über das Internet – auch die seiner Freunde. Die Drohnen selbst dienen ebenso der Livekommunikation, haben sie doch Mikrofone, Kameras und sogar kleine Lautsprecher eingebaut.
Sie erlauben es zudem Bens Klavierlehrern, ihn bei seinem Spiel zu unterstützen. Mittels der ferngesteuerten Drohnen können sie seine Haltung aus jeder ge-wünschten Perspektive ansehen und kommentieren. Ben hat Freunde auf der ganzen Welt, die er zum gemeinsamen Musizieren einlädt. Für Konzerte verwenden die jungen Musiker holografische Systeme. Dabei wird physische Präsenz aller Beteiligten simuliert. Die Synchronizität führt aufgrund der direkten Interaktion zu einer besonders qualitätsvollen Vernetzung von Ben mit seinen Musikerkollegen. Der Erwerb von Sprachkenntnissen und der interkulturelle Austausch sind ein wünschenswerter Nebeneffekt bei den weltweiten Musikproben. Ben und seine Eltern messen selbst bei diesen sehr frei wirkenden musikalischen Zusammenkünften Bens Fortschritte.
In Bezug auf Bens Bildungsweg wollen sich die Eltern jedoch nicht allein auf die algorithmische Karriereberatung verlassen und beobachten die Bildungslandschaft durchaus kritisch. Der Trend auf der einen Seite hin zu einer globalen und demokratischen Fernlehre steht der kleinen fast alchemistisch anmutenden „Klüngelei“ elitärer Grüppchen gegenüber, die sich in den altehrwürdigen Mauern realer oder virtueller Colleges zusammenfinden und die menschliche der algorithmischen Einflussnahme vorziehen. Vor einigen Jahren haben diverse informationstechnische Pannen zu einer Gegenbewegung geführt. Identitäten wurden zuhauf gehackt und missbraucht, fehlerhafte Software führte zu falschen Rückschlüssen und Feedbacks. Konservative Stimmen forderten eine Rücknahme des technologischen Einflusses auf Karriereentscheidungen und Erziehungsfragen.
Der holografische Projektor summte und zeichnete den aktuellen Bearbeitungs-stand des Workflows in bunt leuchtenden Zeichen in die Luft. Vikram verschob mit geübten Gesten einige Pfadabhängigkeiten und skalierte mit Sprachbefehlen die Inputdaten. Er hatte mit einigen Unterbrechungen nun heute elf Stunden gearbeitet, vier Stunden davon waren der üblichen wöchentlichen Schulung in den sich rasant entwickelnden Webtechnologien gewidmet. Das Bio-Sensor-Armband forderte schon lange Erholungspausen. Eine freundliche Stimme sagte nun: „Vielen Dank für Ihre hervorragende Arbeit, Vikram.“ Das Summen des Projektors verstummte, Vikram fiel auf die Couch. Vor zehn Jahren war an diesem Ort noch ein Slum. Vikram erinnerte sich an seine Jugend dort, an sein Studium des Software Engineering, das glückliche Umstände ermöglicht hatten, an die staatlichen Förderprogramme, die die neuen Mittelstandswohnungen in der Gegend wie Pilze aus dem Boden schießen ließen. Er hatte sofort Arbeit gefunden nach dem Studium, für ein britisches Softwarehaus, das ein neues Bürogebäude aus dem Boden gestampft und Universitätsabsolventen zu Dutzenden angestellt hatte. Vier erfahrene Teamleiter kamen aus London, Touchscreens für kollaborative Programmierarbeit wurden aus Südkorea geliefert. Sechs Monate später war das erste Projekt abgeschlossen, der Chef der Firma schaltete sich aus Londons Financial District zur Feier dazu und verkündete eine Prämie für jeden. Seitdem hatte Vikram erst den Wechsel zu Augmented-Reality-Datenbrillen und kürzlich zu einer von der Harford University lizenzierten Lern- und Programmierplattform mit holografischen Projektoren und integrierter Sprach- und Gestenerkennung mitgemacht und arbeitete nun von zu Hause aus.
Seitdem Vikram 30 geworden war, spürte er den stärker werdenden Wunsch, sinnstiftende Projekte zu unterstützen. Er fuhr das Projektorkit hoch, startete nicht die Harford-Software, sondern den Einwahlknoten der Open Global University, setzte eine unscheinbare Kappe auf und zog dünne Handschuhe an, die er vorgestern aus einem Spezialgeschäft für biotechnische 3-D-Drucke abgeholt hatte. Dann absolvierte er eine kurze Authentifizierungssequenz mit zufälligen Fragen und Filmausschnitten, bevor der Projektor die Figuren einiger Personen in die Dunkelheit vor ihm warf. „Hallo Vikram!“, sagte die Projektleiterin Mrs Miller, eine weißhaarige Frau um die 60. „Wie ich sehe, haben Sie das aktuelle Neurointerface-Set bereits drucken können. Das freut mich. Wir werden Ihnen heute zeigen, was wir damit vorhaben. Ich will Sie kurz mit der Projektgruppe bekannt machen. Dies ist Professor Liu aus Hongkong, eine Expertin für somatische Feedbacks. Paul Woland aus Hamburg, Vertreter des CCC Deutschland. Sie kennen Pepe, unseren Leiter des Legal Departments, und Sabrina, die das Design und die Ausstattung unserer weltweiten Lernzentren betreut.“
Mrs Miller wischte mit kleinen Gesten neue Darstellungsebenen in die Ho-lo-Projektion. „Wie Sie wissen, erlaubt uns unsere genossenschaftlich organisierte Hochschule mit mehreren Millionen Mitgliedern weltweit über Crowdfunding und demokratische Abstimmungen eine eigene bildungs- und forschungspolitische Agenda. Die diesjährigen Votings ergaben die Zuteilung beträchtlicher Ressourcen für ein Projekt, das einen offenen Standard für somatisches Feedback schaffen soll. Dieser Forschungsbereich war lange ein juristisches Minenfeld. Samsang, Birnen Inc. und Gugelhupf Inc. halten Dutzende wichtiger Patente. Aber nachdem wir kürzlich einen Durchbruch durch eine umfassende gegenseitige Lizenzierung erreicht haben, steht dem Projekt nichts mehr im Wege.
Zurzeit folgen unsere Lernzentren klassischen Web-4.0-Standards. Wir sprechen dort mit holografischen Projektionen, haptischen Anzügen und Geschmacks- und Geruchsemittern alle fünf Sinne an und erlauben dadurch eine realistische physi-sche Interaktion mit einer virtuellen Umwelt. Lernwelten sind dadurch sehr lebensnah geworden, die Erlebnisse und Erfahrungen können in Echtzeit weltweit geteilt, untersucht und bewertet werden. Biosensoren erlauben Data-Mining in den umfassenden Interaktionsmustern der Lernenden mit ihren Kontexten. Nur die wenigsten könnten sich diese teuren Lernumgebungen leisten, aber über unsere weltweit verteilten Zentren können wir vielen Menschen einen gerechten Zugang zu diesen Technologien ermöglichen und den Erwerb unserer Zertifikate anbieten. Der nächste Schritt ist der zu einem neurologischen Web. Die neuen Schnittstellen werden in der Lage sein, neurochemische Prozesse zu lesen und zu triggern. Sie tragen die Handschuhe und die Neurokappe, Vikram? Passen Sie auf, es wird keine angenehme Erfahrung.“
Vikram spürte plötzlich seine rechte Hand nicht mehr. Ein ständiger, dumpfer Schmerz pochte im Handgelenk. Er konnte seine Finger nicht mehr bewegen, ja nicht einmal spüren. Paul, der Vertreter des CCC, meldete sich zu Wort. „Dies ist das somatische Handprofil einer Frau namens Liya, die vor Kurzem aus einem repressiven Regime nach Deutschland fliehen konnte. Seit einigen Jahren verteilen Aktivistengruppe wie Anonymous und Telecomix in Ländern, die den Internetverkehr filtern und Inhalte sperren, Devices mit satellitengestütztem Zugang in das freie Internet. Liya hatte sich im digitalen Widerstand engagiert und zu uns Kontakt aufgenommen. Leider konnten wir ihr nicht helfen, als sie nach den Gesetzen ihres Landes für einen nicht begangenen Diebstahl bestraft wurde. So fühlt es sich an, keine Hand mehr zu haben. Unsere Partnerorganisationen vor Ort haben ihr und ihrem Mann zur Flucht verholfen. Sie ist eine hervorragende Programmiererin und unterstützt unser Projekt.“
Vikram war sprachlos. Die Authentizität des Gefühls war unbeschreiblich. Er war froh, als er seine eigene Hand wieder spürte. Es dämmerte ihm, welches Potenzial diese Technologie zum Vermitteln komplexer Zusammenhänge und zum Teilen menschlicher Erfahrungen hatte.
Zurück im Jahr 2013.Bastian, Julia, David und Tina – die Expertengruppe „Technologische Zukunft“ innerhalb der Initiative – treffen sich in Videochats und Workshops und skizzieren eine gemeinsame Vision möglicher Bildungsszenarien. Die Veran-schaulichung in lebensalltäglichen Geschichten basiert auf drei Thesen:
Transformation von klassischen Lerninstitutionen und Bildungsparadigmen
War der Bildungsbereich zunächst von allzu großen Veränderungen ausgenommen und zeigte ein erstaunliches Verharrungsvermögen, führten Kostendruck und internationaler Wettbewerb sowie der rasante technische Fortschritt und der damit einhergehende kulturelle und gesellschaftliche Wandel zu Änderungen. Auch erfolgte ein Generationswechsel der Lehrpersonen: Sogenannte „Digital Natives“ verstehen sich nicht mehr als Top-down-Instruktoren, sondern als Moderatoren von Lernprozessen in der omnipräsenten digitalen Umwelt. Dabei wird ihre Rolle immer mehr in den Hintergrund gerückt, da in den Alltag integrierte Smart Devices zum sozial vernetzten lebenslangen Lernen intrinsisch motivieren und die klassischen Anreizsysteme (z.B. Benotung durch Lehrende) ausgedient haben. Lernen findet überall statt und wird von intelligenten Algorithmen erfasst und ausgewertet. Potenzielle Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber legen immer weniger Wert auf formelle Abschlüsse. Die nachvollziehbare Darstellung von Vernetzung und der erworbenen Kenntnisse in E-Portfolios lösen Zeugnisse und Diplome ab. Neben den klassischen Institutionen etablieren sich Firmen und Non-Profit-Institutionen im Bildungsbereich; mehrere Open-Education-Universitäten entstehen und bilden weltweit Millionen von Menschen aus. Technologisch hervorragend ausgestattete Lernzentren in Ballungsräumen werden von verschiedenen Universitäten für Kurse und Tests gebucht.
Lernen in einer multisensualen Immersion
Die Sinneswahrnehmung des realen Raumes wird computergestützt erweitert (Augmented Reality). Holografische Systeme, die quasi ein Beamen anderer Personen zulassen, bewirken das Gefühl von Präsenz. Bewegung der Lernenden bei der Live-Online-Kommunikation durch mobile holografische Systeme fördert die Merkfähigkeit. Der klassische Lernort „Schreibtisch“ hat damit weitgehend ausgedient. Auge und Ohr werden noch einige Zeit die wichtigsten Schnittstellen des menschlichen Körpers zur Technologie sein. Nach einem massiven Nutzungsanstieg mobiler Endgeräte etablieren sich neue Formate dafür, die nebenbei bedienbar sind, nicht unsere volle Aufmerksamkeit beanspruchen und uns die Hände zurückgeben. Datenbrillen oder auch Sprachsteuerungen sind wichtige Innovationen für nahtlose technologische Unterstützung. Haptische und olfaktorische Erfahrungen – wenn gewünscht – intensivieren die Sinneswahrnehmung und ermöglichen ein stärkeres Eintauchen in die Lernszenerie. Neurointerfaces haben den klinischen Anwendungsbereich verlassen und sind ein nahtlos niederschwelliges Alltagstool. Die erwähnten Technologien erlauben eine Nutzung unserer geistigen und physischen Lernfähigkeiten über die bisherigen Dimensionen hinaus.
Soziales Lernen in einer vernetzten Welt
Eine Kombination von holografischen Systemen und intelligenten Sensoren mit ortsbasierten Diensten sowie Social Networks erlaubt global vernetzte unmittelbare Lernerfahrungen in Echtzeit. Smart Devices lassen diese in jeder Alltagssituation zu. Interaktion und Vernetzung mit anderen Lernenden sind Motivationsfaktoren und dienen dem Aufbau von Sozialkapital, das im Verlauf des Lebens gewinnbringend eingesetzt werden kann. Aktuell relevante Lerninhalte werden kontextbezogen und oft in Peer-to-Peer-Umgebungen erfahrbar gemacht. Matching-Systeme vernetzen Menschen hinsichtlich ihrer aktuellen Interessen. Kommunikation und Vernetzung sowie das Befriedigen intrinsischer, spontaner Lernbedürfnisse spielen dabei die Hauptrolle. Globale vernetzte Lerncommunitys entstehen problem- und lösungsorientiert. Der Zugang zu diesen ist offen und flexibel. Lernerfahrungen werden weitgehend automatisiert dokumentiert und stehen anderen zur Verfügung. Kryptologische Strukturen zur Kontrolle des Datenflusses sind als globale juristische und technologische Standards etabliert.
Weitere Materialien unter: zukunftlernen.collaboratory.de
Weitere Informationen zur Initiative "Lernen in der digitalen Gesellschaft – offen, vernetzt, integrativ".